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Joseph Goebbels
Tagebücher 1924 - 1945
Band 1
Einführung
1924 - 1929
Herausgegeben von
Ralf Georg Reuth
Piper München Zürich
Diese Taschenbuchausgabe basiert auf der erweiterten gebundenen
Sonderausgabe der Tagebücher, Piper Verlag, München 1999.
Von Ralf Georg Reuth liegen in der Serie Piper vor:
Joseph Goebbels: Tagebücher 1924-1945 (Hrsg., 1410)
Joseph Goebbels (2023)
Originalausgabe
1. Auflage September 1992
3. Auflage März 2003
© 1992, 1999 Piper Verlag GmbH, München
Umschlag /Bildredaktion: Büro Hamburg
Isabel Bünermann, Julia Martinez/
Charlotte Wippermann, Katharina Oesten
Umschlagfoto: Scherl/SZ Bilderdienst
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany ISBN 3-492-21411-8
www.piper.de
Inhalt
Band 1
EINFÜHRUNG
von Ralf Georg Reuth 1
Die Tagebücher des Joseph Goebbels und ihre
Überlieferungsgeschichte 3
Glaube und Judenhaß als Konstanten im Leben des
Joseph Goebbels 20
DIE TAGEBÜCHER DES JOSEPH GOEBBELS
1897-1923 (Erinnerungsblätter) 49
1924 88
1925 166
1926 217
1928 283
1929 345
Band 2
1930 441
1931 549
1932 609
1933 742
1934 838
Band 3
1935 853
1936 923
1937 1025
1938 1176
1939 1294
Band 4
1940 1365
1941 1516
1942 1726
Band 5
1943 1857
1944 1974
1945 2125
ANHANG
Editorische Anmerkungen 2189
Namensregister zu den Tagebuch-Eintragungen 2193
Abkürzungsverzeichnisse 2284
Literaturverzeichnis 2297
I. Verzeichnis der Goebbels-Schriften 2297
1) Unveröffentlichte Arbeiten 2297
2) Veröffentlichte Schriften 2298
II. Goebbels-Biographien 2299
III. Auswahlbibliographie 2300
IV. Bisherige Tagebuch-Ausgaben 2304
Nachwort zur ergänzten Neuauflage 2305
Goebbels-Tagebücher/Nachtrag 1999 2307
EINFÜHRUNG
von
Ralf Georg Reuth
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
und ihre Überlieferungsgeschichte
»Ich schreibe nicht zu meinem Vergnügen, sondern weil mir mein
Denken eine Qual und eine Lust ist. Früher wenn es Samstag war
und der Nachmittag weiter ging, dann hatte ich keine Ruhe mehr.
Dann lastete die ganze Woche mit ihrer kindlichen Qual auf meiner
Seele. Ich half mir immer dann am besten dadurch, daß ich mein
Gebetbuch nahm und zur Kirche ging. Ich dachte über alles nach,
was die Woche mir Gutes und Böses gebracht hatte, und dann ging
ich zu dem Priester und beichtete mir alles von der Seele herunter.
Wenn ich jetzt schreibe, dann habe ich ein gleiches Gefühl. Es ist
mir, als müßte ich beichten gehen. Ich will mir das letzte von meiner
Seele herunterschreiben.« 1 Mit diesen Worten erläuterte Joseph
Goebbels im Frühjahr 1923 seiner damaligen Lebensgefährtin,
der Rheydter Volksschullehrerin Else Janke, das Motiv seiner
»Schreibwut«, die ihn schon in früher Jugend zu Feder und Papier
greifen ließ.
Bei den ersten Versuchen des Oberschülers Paul Joseph Goeb-
bels handelte es sich nicht um Tagebücher, sondern um Gedichte. 2
Bald traten längere Abhandlungen, wie zum Beispiel über Wilhelm
Raabe 3 oder Theodor Storm 4 , hinzu. Nachdem Goebbels im Jahr
1 Goebbels, Joseph: Aus meinem Tagebuch, 1923, BA Koblenz, NL 118/126; zu
den biographischen Angaben siehe: Reuth, Ralf Georg: Goebbels, ?. Aufl.,
München /Zürich 1991 (weiterhin zitiert als: Reuth, Goebbels).
2 In den Goebbels-Papieren finden sich zahlreiche dieser Gedichte sowie eine
Sammlung derselben: Lyrische Gedichte. Dem Herrn Professor Rentrop, mei-
nem hochverehrten Lehrer, in Dankbarkeit zugeeignet (ohne Datum), Bestand
Genoud, Lausanne.
3 Goebbels, Joseph: Wilhelm Raabe, 7.3.1916, Bestand Genoud, Lausanne.
4 Theodor Storm als Lyriker. Zu seinem WO. Geburtstag am 14. September 1917
von P. Joseph Goebbels , Bestand Genoud, Lausanne.
4
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
1917 in Bonn das Studium der Geschichte, Germanistik und Altphi-
lologie begonnen hatte, verfaßte er auch einige »Novellen« 5 , wie er
die Traktate selbst überschrieb. Mit Judas Iscariot entstand im Jahr
darauf eine »biblische Tragödie« 6 , weitere Dramen wie Heinrich
Kämpfen 1 , Kampf der Arbeiterklasse* oder Die Saal 9 folgten. The-
matisierten diese Stücke bereits seine eigene überaus schwierige
Lebenssituation als Krüppel minderer Herkunft, so brachte er mit
Michael Voormanns Jugendjahre 10 seine eigene Geschichte zu
Papier, »ohne Schminke, so wie ich es sehe«. 11 Nur der Name des
Protagonisten blieb in dem im Herbst 1923 begonnenen und im dar-
auffolgenden Winter fertiggestellten Tagebuch-Roman Michael
Voormann. Ein Menschenschicksal in Tagebuchblättern 12 , der spä-
ter, im Jahr 1929, umgearbeitet zu einem »Deutschen Schicksal in
Tagebuchblättern« 13 , beim parteieigenen Franz Eher-Verlag
erscheinen sollte.
Mit einem Tagebuch im eigentlichen Sinne hatte dies freilich noch
nichts zu tun. Dies gilt auch für die mit den Worten Aus meinem
Tagebuch 14 überschriebenen Aufzeichnungen vom Frühjahr 1923,
in denen Goebbels gegenüber seiner Lebensgefährtin Else Janke
sein »verpfuschtes Leben« offenlegte. Abgesehen von einem nur
5 Bin ein fahrender Schüler, ein wüster Gesell . . . Novelle aus dem Studentenleben
von Joseph Goebbels. Meinem lieben Leibburschen Karl Heinz Kölsch, Som-
mer 1917, BA Koblenz, NL118/117; Goebbels, Joseph: Die die Sonne lie-
ben. . . Sommer 1917, BA Koblenz, NL118/117.
6 Judas Iscariot. Eine biblische Tragödie in fünf Akten von P.J .Goebbels, Au-
gust 1918, BA Koblenz, NL 118/ 117.
7 Heinrich Kämpfen. Ein Drama in drei Aufzügen von P. Joseph Goebbels, Fe-
bruar 1919, BA Koblenz, NL 118/114.
8 Kampf der Arbeiterklasse. Drama von Joseph Goebbels, Jahreswende 1919/
20, Bestand Genoud, Lausanne.
9 Die Saat. Ein Geschehen in drei Akten von P. Joseph Goebbels, März 1920, BA
Koblenz, NL 118/117.
10 Michael Voormanns Jugendjahre, I. und 111. Teil, 1919, BA Koblenz, NL
118/126 und NL 118/115 (weiterhin zitiert als: Michael Voormann) .
11 Erinnerungsblätter, Herbstferien 1919 in Münster und Rheydt.
12 Michael Voormann. Ein Menschenschicksal in Tagebuchblättern, 1923, Be-
stand Genoud, Lausanne (weiterhin zitiert als: Michael 1923).
13 Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern, München 1929 (weiter-
hin zitiert als: Michael 1929).
14 Aus meinem Tagebuch, 1923, BA Koblenz, NL 118/126.
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
5
sporadisch geschriebenen, nicht überlieferten Tagebuch aus seiner
Schülerzeit, begann Goebbels das Tagebuchschreiben im Herbst
1923. Er halte die Qual nicht mehr aus. »Ich muß mir die Bitterkeit
vom Herzen schreiben. Else schenkt mir ein Buch für den täglichen
Gebrauch. Am 17. Oktober beginne ich also mein Tagebuch.« 15
Goebbels beendete mit diesen Worten die sogenannten Erinne-
rungsblätter, die er im Juli/ August 1924 zu Papier brachte. Im Tele-
grammstil hielt er darin Herkunft, Kindheit, Schul- und Studien-
jahre fest, aber auch die quälende Zeit der Arbeitslosigkeit nach der
Promotion im Herbst 1921, die mit der Beschäftigung bei einer Köl-
ner Filiale der Dresdner Bank zu Beginn des Jahres 1923für gut acht
Monate unterbrochen wurde. Diese Notizen, in denen er sich eben-
falls über seine Liebesbeziehung zunächst zu der Recklinghausener
Studentin Anka Stalherm, dann zu Else Janke ausließ, dienen
gleichsam als Vorspann zu den eigentlichen Tagebüchern, die
Goebbels von jenem 17. Oktober 1923 an sein ganzes weiteres Le-
ben führen sollte. Die letzte Eintragung schrieb der Reichskanzler
Joseph Goebbels am Nachmittag des 1. Mai 1945, wenige Stunden,
bevor er gemeinsam mit seiner Familie Hitler in den Tod folgte. 16
Die erste nicht überlieferte Tagebuch-Kladde in Din-A4-Format
reicht bis Ende Juni 1924, die zweite bis zum 9. Juni 1925. 17 Es folgt
das sogenannte Elberfelder Tagebuch, deren erhaltene Teile den
Zeitraum vom 12. August 1925 bis zum 30. Oktober 1926 abdecken.
Mit Ausnahme des Tagebuchs vom 8. November 1926 bis zum 1. Juli
1928 umfassen die drei darauffolgenden Kladden Zeitspannen von
jeweils gut einem Jahr. Seit 1932 führten die verbesserten Lebens-
verhältnisse und die wechselnden Wohnsitze dann dazu, daß Goeb-
bels parallel Tagebuch schrieb. Neben dem Tagebuch zu Hause
legte Goebbels am 22. Mai 1932 ein Tagebuch für Ferien und Reise
an, am 6. April 1935 ein Tagebuch Schwanenwerder und am 29,Ok-
15 Erinnerungsblätter, Von September bis Oktober 1923 in Rheydt und Cöln.
16 Reuth, Goebbels, S. 613.
17 Zum Umfang der Überlieferung im einzelnen vgl.: Die Tagebücher des Jo-
seph Goebbels. Sämtliche Fragmente, hrsg. von Elke Fröhlich im Auftrag des
Instituts für Zeitgeschichte und in Verbindung mit dem Bundesarchiv, Teil I,
Aufzeichnungen 1924 bis 1941, München/New York 1987 (weiterhin zitiert
als: TGB IfZ), Bd.l, S.XXIIff.
6
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
tober desselben Jahres ein Tagebuch mit der Deckblatt-Bezeich-
nung Haus am Bogensee. Die systematische Trennung der Tagebü-
cher geriet jedoch bald durcheinander. So scheint es, daß das
Ferien- und Reisetagebuch spätestens in der zweiten Flälfte 1935 zu
dem normalen Tagebuch mit etwa fünfzehn Eintragungen im Monat
wurde. Seit 1937 nahm Goebbels’ Schreibintensität zu und steigerte
sich mit Kriegsbeginn nochmals.
Von Sommer 1941 an wandelte sich der Charakter der Tagebü-
cher. Die Eintragungen begannen fortan mit dem militärischen La-
gebericht, den ein Verbindungsoffizier zum OKW vortrug. Ihnen
schloß sich der eigentliche Teil des Tagebuchs an. Diesen diktierte
Goebbels regelmäßig am Vormittag vor der um elf Uhr begin-
nenden Ministerkonferenz. Beide Vorträge wurden von dem Steno-
graphen Otte auf einer Continental-Schreibmaschine mit übergro-
ßen Drucktypen, sogenannten »Führer-Typen«, übertragen. 18 Bis
Ende 1944/ Anfang 1945 existierten von den Tagebüchern drei Fas-
sungen: die insgesamt 22 Kladden des handschriftlichen Tagebuchs,
die bis dahin in den Tresoren der Reichsbank lagerten, und die Erst-
und Zweitschrift des maschinenschriftlichen Tagebuchs. Die Leitz-
ordner mit je etwa fünfhundert Blatt wurden in einem gesonderten
Raum des Ministeriums aufbewahrt (jeweils hundert Ordner pro
Fassung).
In dieser gewaltigen Menge Papier passiert das Leben eines Man-
nes Revue, der in den Stürmen jener dramatischen Zeit zu den Na-
tionalsozialisten und zu Hitler fand. Die Aufzeichnungen werden
damit zu einem Dokument, das nicht nur Gedankenwelt und politi-
schen Weg des Joseph Goebbels offenlegt. Da dieser wie die mei-
sten seiner Generation reagierte, freilich entsprechend dem de-
struktiven Zug seiner Person heftiger, überspitzter, vermittelt das
Tagebuch bei all der eitlen Selbstbespiegelung und autosuggestiven
Lügenhaftigkeit des Autors so auch den Zugang zum Geist seiner
Zeit, zum Verstehen, weshalb viele Sozial-Deklassierte, von den
Nachkriegsereignissen aus der Bahn Geworfene und vom Weimarer
System Enttäuschte den Weg zu Hitler gingen.
Die Aufzeichnungen des Joseph Goebbels sind freilich auch aus
18 Vorwort zu TGB IfZ, S.LIX.
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
7
anderen Gründen eine historische Quelle ersten Ranges. Sie geben
nicht nur Einblick in die Anfänge des Propagandisten Goebbels,
sondern auch in die des Nationalsozialismus in Nordwestdeutsch-
land, den Aufstieg der NSDAP in Berlin von den Saalschlachten der
endenden zwanziger bis hin zu den Massenaufmärschen und Groß-
kundgebungen der beginnenden dreißiger Jahre, aber auch von den
Macht- und Flügelkämpfen in der Partei. Dem Leser wird der Blick
freigegeben auf die Phase der Machtübernahme und auf die Konso-
lidierung dieser Macht, von dessen Zentrum sich Goebbels zuneh-
mend entfernte. Das Private, teils sorgsam zwischen den Zeilen ver-
steckt und für den Leser kaum erkennbar, wie die Notizen über die
Affäre des Propagandaministers mit der Filmschauspielerin Lida
Baarova, oder teils offen hingeschrieben, wie im Falle seiner nicht
enden wollenden Ehekrise, drängt nun die politischen Ereignisse
mitunter in den Hintergrund. Als der Zweite Weltkrieg beginnt, als
bald an die Stelle der geplanten Abfolge von Blitzkriegen und Sie-
gen ein kräfteverschleißender Abnutzungskampf tritt und Propa-
ganda und Propagandaminister ihre Bedeutung zurückgewinnen,
erlangen auch die Tagebücher ihren hohen Stellenwert als Ge-
schichtsquelle zurück. Der Leser wird jetzt vor allem mit jener gi-
gantischen Kampagne des Versuchs der kollektiven Überwindung
der Vernunft konfrontiert, deren Höhepunkt Goebbels’ Rede zum
»totalen Kriege« im Berliner Sportpalast im Februar 1943 darstellt.
Da der Reichsminister ins Zentrum der Macht drängt, enthalten
seine Ausführungen nun immer häufiger die Lageeinschätzungen
»seines Führers«. Mit dem nahenden Ende spiegelt das Tagebuch
beider Männer Flucht in die Irrationalität, in einen Glauben, der das
»Wunder des Unmöglichen« möglich machen sollte, so wie er es
schon einmal mit ihrem Aufstieg zur Macht Wirklichkeit werden
ließ. Insbesondere jene Aspekte der Tagebücher verdeutlichen das
eigentliche, das häufig vernachlässigte Wesen des Nationalsozialis-
mus als »politische Religion«, als vermeintliche »Antwort der
Seele« auf eine scheinbar vom Materialismus beherrschte und ver-
derbt geglaubte Welt, der Oswald Spengler schon vor dem Ersten
Weltkrieg ihren Untergang prophezeit hatte.
Um den Versuch der Rettung des Abendlandes, als den Goebbels
den Nationalsozialismus begriff, über die Zeiten hinweg zu doku-
mentieren, begann er im November 1944, verschiedene Maßnah-
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
men einzuleiten. Zunächst erhielt der Stenograph Otte den Auf-
trag, die handschriftlichen Kladden zu transkribieren, was mit
600-800 Seiten aus der Zeit von Juli bis Oktober 1941 geschah. 19
Bald darauf ordnete Goebbels an, die maschinenschriftlichen Tage-
bücher zu kopieren. 20 Er bestellte eine sogenannte Goebel-Planfilm-
Kamera, mit der zwei Fotolaborantinnen in der Künstlergarderobe
des Privattheaters in Goebbels’ Wohnung in der Hermann-Göring-
Straße sämtliche bis dahin vorliegende Tagebücher mikrofichierten.
Die Negativ-Glasplatten hatten ein Format von 14,5 x 10,5 cm mit
jeweils maximal 45 Tagebuch-Seiten pro Platte. Die fast tausend
Glasplatten sollen - wie Otte nach Kriegsende berichtete - von einem
Offizier in der Nähe Potsdams, zwischen Caputh und Michendorf,
unweit der Reichsautobahn, vergraben worden sein. Im Verlaufe des
Umzuges von Goebbels und seiner Familie in den Bunker unter der
Reichskanzlei am 22. April 1945 wurden dann die Orginalklad-
den des handschriftlichen und die Orginalfassung des maschinen-
schriftlichen Tagebuchs in Aluminiumkisten verpackt und dorthin
transportiert. Die noch im Propagandaministerium befindliche
Durchschrift der maschinenschriftlichen Tagebücher sollte Otte
vernichten. Dem Stenographen lag jedoch die Rettung des eigenen
Febens näher. Er setzte sich ab, noch ehe er seinen Auftrag erfüllt
hatte, so daß weite Teile der Durchschrift einfach liegenblieben.
Nachdem wenige Tage darauf die Kämpfe beendet und die ver-
kohlten Feichen von Joseph und Magda Goebbels vor einem Aus-
gang des Führerbunkers gefunden worden waren, stießen sowjeti-
sche Sondertrupps bei der Sichtung des Regierungsviertels auf die
Goebbels-Tagebücher. Im allgemeinen Chaos konnte freilich von
einer wissenschaftlichen Erfassung der Funde keine Rede sein. Wie
tatsächlich vorgegangen wurde, darüber berichtet die Historikerin
Jelena Rshewskaja, die in Goebbels’ Zimmer im Führerbunker ne-
ben anderen Materialien die Tagebücher fand. 2 ' Da es sich als be-
schwerlich herausgestellt habe, in dem Bunker zu arbeiten, habe
man die Sortierung in den Saal der Reichskanzlei verlegt. Dorthin
19 Ebda., S.LX.
20 Vgl. dazu das Nachwort zu: Joseph Goebbels. Tagebücher 1945. Die letzten
Aufzeichnungen, Bergisch Gladbach 1980, S. 547.
21 Rshewskaja, Jelena, Hitlers Ende ohne Mythos, Ost-Berlin 1967, S. 28.
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
9
hätten sowjetische »Aufklärer« die in Säcken zusammengesammel-
ten losen Schriftstücke geschleppt und sie auf den Prunkboden ge-
schüttet. Auch aus dem Propagandaministerium hätten die Sowjets
Durchschriften zusammengetragen, die später wenig sorgfältig ver-
filmt wurden.
Im November 1945 fand der amerikanische Offizier und spätere
Vizekonsul W. Montenegro dicht am Führerbunker zwei von der
Erde und vom Wetter feuchte Büchlein. 22 Bei einem der beiden han-
delte es sich um das sogenannte Elberfelder Tagebuch von 1925/26,
das 1947 zur Hoover Institution nach Stanford gelangte. 23 Auf Frag-
mente des Goebbels-Tagebuchs stießen jedoch auch andere. Der
Berliner Altpapier-Händler Robert Breyer hatte in einem Papier-
haufen etwa siebentausend Blatt, wegen ihrer besonderen Papier-
qualität auffällige, Goebbels-Tagebücher aus den Jahren 1942/43
entdeckt. 24 Für einige Stangen Zigaretten gab er diese wohl aus dem
Bestand der im Propagandaministerium befindlichen Durchschrif-
ten schließlich einem amerikanischen CIC-Offizier. Von diesem ge-
langten sie auf Umwegen in die Hände des Journalisten Louis P.
Lochner, der sie 1948 herausgab. 25 Ein CIC-Agent namens Eric C.
Mohr fand ein 591 Seiten umfassendes maschinenschriftliches Tage-
buch-Fragment, das er 1947 der amerikanischen Regierung über-
gab. Das dritte in amerikanische Hände geratene Fragment wurde
nach 1972 im Washingtoner Nationalarchiv wiederentdeckt. 26
Schon im Jahr 1961 hatte die kurz nach Kriegsende im Führerbun-
ker zu Aufräumungsarbeiten verpflichtete Frau Else Goldschwamm
dem Institut für Zeitgeschichte (IfZ) ein Bündel mit fünfhundert
Blatt Goebbels-Tagebüchern aus den Jahren 1942, 1943 und 1944
überlassen. Ihren Angaben zufolge hatte sie es aus einer Alumi-
niumkiste entnommen. 27
22 Vorwort zu TGB IfZ, S.LXVIII.
23 Das Elberfelder Tagebuch wurde 1960 von Helmut Heiber herausgegeben
(Tagebuch von Joseph Goebbels 1925/26, mit weiteren Dokumenten hrsg.
von Helmut Heiber, Stuttgart 1960).
24 Vorwort zu TGB IfZ, S. LXVIIIf.
25 Goebbels Tagebücher aus den Jahren 1942- 43. Mit anderen Dokumenten
hrsg. von Louis P. Lochner, Zürich 1948.
26 Vorwort zu TGB IfZ, S.LXIXf.
27 Ebda., S. LXIIIf.
10
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
Im Oktober 1972 sollte es dann zur Sensation kommen. Erwin
Fischer, ein westdeutscher Journalist und Buchautor, reiste mit
6600 Blatt Fotokopien maschinenschriftlicher Goebbels-Tagebü-
cher und im darauffolgenden Jahr noch einmal mit 37 Mikrofilmen
und Mikrofiches mit handschriftlichen Tagebuch-Eintragungen aus
den Jahren 1924 bis 1945 von der DDR in die Bundesrepublik. Es
handelte sich um Kopien aus jenen Beständen, die die Sowjets im
Jahr 1945 im Propagandaministerium und im Führerbunker gefun-
den und als Kriegsbeute in die Sowjetunion verbracht hatten. 28
Über die Herkunft der Tagebücher berichtete Fischer der west-
lichen Öffentlichkeit Bemerkenswertes: Im Jahr 1969 habe er von
einem Mitglied des sowjetischen Schriftstellerverbandes erfahren,
daß sich dieses gegenwärtig mit der Archivierung von Goebbels-
Tagebüchern beschäftige. »Ich suchte nun also einen Weg, die karge
Information zu realisieren. Das begann durch ganz normale Briefe an
die russischen Botschaften in Bonn, Berlin, DDR. Das begann mit
Nachfragen in Archiven . I m Verlaufe dieser Recherchen verdichtete
sich immer mehr der Verdacht, daß es ein gewaltiges Konvolut von
Tagebüchern geben muß, vermutlicher Aufbewahrungsort Moskau
oder Ost-Berlin. Also versuchte ich herauszufinden, wer ist zu-
ständig in Moskau, wer ist zuständig in Ost-Berlin. Es kamen dann
Hinweise, die mich nach Bratislava geführt haben, in die Tschecho-
slowakei. Es gab auch einen weiteren Hinweis dann, ein Staats-
archivdirektor in Budapest arbeitet mit Goebbels-Tagebüchern. Ich
bin auch dort hingeflogen [. . .] wieder gings nach Moskau zurück, zu
den Archivleuten. Aber schließlich nach zweieinhalb Jahren, stand
doch fest, daß das Konvolut als Kriegsbeute der Roten Armee 1945
von Berlin aus in die Sowjetunion verbracht war.« 29 Schließlich habe
er, Fischer, durch seine Intervention von den östlichen Stellen die
Genehmigung für eine Veröffentlichung im Westen erhalten. 30
Der frühere Leiter des Dokumentationszentrums der staatlichen
28 Vgl. dazu den zusammenf assenden Bericht in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung vom 19.11.1988.
29 Sein deutsches Volk formieren. Goebbels: Ein Porträt nach den Tagebü-
chern. Feature von Manfred Franke. Gesendet vom Deutschlandfunk am
23.2.1988.
30 Ebda.
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
11
Archivverwaltung der einstigen DDR, Ludwig Nestler, plauderte
gegenüber der Herausgeberin der Goebbels-Tagebuch-Dokumen-
tation des IfZ, Elke Fröhlich, hingegen aus, daß die Kopien der
Kopien der Goebbels-Tagebücher um 1970 von einem hochgestell-
ten sowjetischen Gast anläßlich eines Besuches in der DDR als
Gastgeschenk mitgebracht worden seien. 31 Nestler verwies damit
Fischers Tagebuch-Odyssee in den Bereich der Legende - freilich
einer Legende, mit der Fischers Rolle als »Strohmann« Ost-Berlins
gegenüber der westdeutschen Öffentlichkeit verschleiert werden
sollte.
Über die Motive Ost-Berlins, die aus der Sowjetunion stammen-
den Tagebuch-Kopien in der Bundesrepublik herausgeben zu las-
sen, kann nur spekuliert werden. Wenngleich Fischer behauptete,
er habe sich bei seinem Ehrenwort und Ansehen als Schriftsteller in
Ost-Berlin verpflichten müssen, dafür zu garantieren, daß weder
»die Naziwelle angeheizt wird, noch eine finanzielle Spekulations-
welle ausgelöst wird«, 32 dürfte die dortige Intention genau die ge-
genteilige gewesen sein. Abgesehen davon, daß es ohnehin der im
kommunistischen Teil Deutschlands damals praktizierten Vergan-
genheitsbewältigung entsprach, den düsteren Teil der gemeinsamen
Geschichte den Westdeutschen zu überlassen, ging es der DDR of-
fenbar vorrangig um Devisen. Außerdem ist nicht ganz auszuschlie-
ßen, daß der Tagebuch-Transfer in Ost-Berlin im Zusammenhang
mit den soeben in bundesdeutsche Länderparlamente einziehenden
Nationaldemokraten gesehen wurde.
Wie dem auch sei, schon wenige Tage nach dem Transfer unter-
schrieben Fischer und der damalige Leiter des Verlages Hoffmann
und Campe, Knaus, einen »vorläufigen Vertrag«, in dem vereinbart
wurde, daß Fischer die als »gemeinfrei« erachteten Tagebücher zur
Veröffentlichung unter seiner Herausgeberschaft dem Hamburger
Unternehmen zur Verfügung stelle. 33 Während sich das Verlags-
haus an die aufwendige Transkription der Texte machte, trat ein
Mann auf den Plan, mit dem niemand gerechnet hatte: Franfois
31 Vorwort zu TGB IfZ, S.LXIV.
32 Siehe oben Anm. 29.
33 Vorläufiger Vertrag zwischen dem Hoffmann und Campe Verlag und Herrn
Erwin Fischer, Steingaden, den 10. Oktober 1972, Archiv Reuth.
12
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
Genoud. Der Schweizer, der in jungen Jahren dem Frontismus, der
Schweizer Spielart des Faschismus, zugetan gewesen sein soll und
auch nach 1945 keinen Hehl aus seiner Sympathie für den National-
sozialismus machte, 34 beanspruchte die Verwertungsrechte an den
Tagebuch-Kopien, die Fischer Hoffmann und Campe zur Verfü-
gung gestellt hatte. Wie Genoud belegen konnte, hatte er im August
1955 Gebühren entrichtet. Sie entstanden beim Verkauf von Ver-
mögenswerten des früheren Propagandaministers, die nach dem
Urteil der Spruchkammer Berlin beschlagnahmt worden waren und
die weder die Berliner Treuhandstelle für NSDAP- Vermögen noch
eine andere Behörde hatte übernehmen wollen. Der vom Amts-
gericht Zehlendorf am 21. September 1954 eingesetzte Nachlaß-
pfleger, Rechtsanwalt Leyke, übertrug dafür Genoud im darauffol-
gendem Jahr »alle urheberrechtlichen Verwertungsrechte an dem
gesamten literarischen Nachlaß des Dr. Joseph Goebbels, gleich-
viel, ob es sich schon um veröffentlichte oder bisher unveröffent-
lichte Werke handelt, ohne jede Einschränkung«. 35
Von seinen in Berlin erworbenen Rechten machte Genoud noch
im selben Jahr Gebrauch, als der Kölner Verlag »Wort und Werk«
in niederrheinischen Kirchenkreisen aufgetauchte Aufsätze, lite-
rarische Versuche, Zeugnisse, Briefe und sonstige private Unter-
lagen, jedoch keine Tagebücher, aus Goebbels’ frühen Jahren
(1915-1924) veröffentlichen wollte. Genoud verlor einen Prozeß
vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf. Auf seine Revision beim
Bundesgerichtshof hin verwies dieser das Verfahren an das Ober-
landesgericht Köln, das Genoud im Jahr 1964 die urheberrecht-
lichen Verwertungsrechte an den frühen Goebbels-Papieren be-
stätigte. 36
Diese Rechtslage überzeugte Hoffmann und Campe davon, daß
Genouds urheberrechtliches Verwertungsrecht auch bei der Her-
ausgabe der Tagebücher nicht zu umgehen sei. Als im Herbst 1977
34 Zu Genoud siehe insbesondere den Bericht von Frank Garbely in der Züri-
cher Weltwoche vom 20.2. 1986.
35 Vertrag zwischen den unbekannten Goebbels-Erben, vertreten durch Kurt
Leyke, und Franfois Genoud, Berlin, den 23. August 1955, Archiv Reuth.
36 BGH-Urteil vom 21.12.1960 (AZ VIII ZR 145/59); Urteil des OLG Köln
vom 30.1 1.1964 (AZ 5 U 150/56 und 5/61).
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
13
bei Hoffmann und Campe ein Band mit Tagebüchern aus dem Jahr
1945 erschien, war die Operation Ost-Berlins gescheitert, denn Fi-
scher war »ausgebootet« worden. Neben dem Hamburger Verlag
und Genoud, die inzwischen einen Vertrag abgeschlossen hatten,
gehörte nun die inzwischen ermittelte Goebbels-Erbin, Maria
Kimmich, die Schwester des einstigen Propagandaministers, zu den
Verdienern an dem gutverkauften Buch. 37
Der mit den Schadensersatzforderungen Fischers belastete Ham-
burger Verlag sah nun ein, daß die Herausgabe sämtlicher Tage-
buch-Fragmente, insbesondere wegen der schwierigen Transkrip-
tion der handschriftlichen Texte, verlegerisch kaum noch lukrativ
wäre. Er verkaufte daher das umfangreiche Material samt einer
kompletten, jedoch äußerst mangelhaften Transkription an das
Bundesarchiv und an das IfZ zu einem Preis von 72997 DM, der
von den Käufern je zur Hälfte bezahlt wurde. 38 Unberücksichtigt
blieb in dem am 13. August 1980 Unterzeichneten Vertrag zwischen
Bundesarchiv/IfZ und Hoffmann und Campe die letztinstanzlich
vom Hanseatischen Oberlandesgericht festgestellte Rechtsver-
bindlichkeit des Vertrags zwischen Fischer und Hoffmann und
Campe. 39
Mit dem Erwerb der Tagebücher sahen sich Bundesarchiv und
IfZ, gegen die Fischer vergeblich auf Herausgabe der Papiere
geklagt hatte, den urheberrechtlichen Verwertungsansprüchen Ge-
nouds ausgesetzt. Eine von ihnen beauftragte Münchener Anwalts-
kanzlei entgegnete der Klage des Schweizers, daß eine rechtswirk-
same Übertragung der Urhebernutzungsrechte zum Zeitpunkt des
Berliner Rechtsgeschäftes vom August 1955 sowohl der Regelung
des Militärregierungsgesetzes sowie der Entnazifizierungsgesetz-
gebung im Wege gestanden habe. Danach seien - so die Münchener
Anwälte -, sofern nicht die Militärregierung ihre Ermächtigung
ausdrücklich erteilt habe, alle Verfügungs- und Verpflichtungsge-
37 Vgl. dazu die Frankfurter Allgemeine Zeitungvom 19.11.1988.
38 Vertrag zwischen Hoffmann und Campe Verlag einerseits und Bundesre-
publik Deutschland und IfZ andererseits vom 13. August 1980, Archiv
Reuth.
39 Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 18. Oktober 1988 (AZ 3 U
155/87-74 0 130/87), Archiv Reuth.
14
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
schäfte über beschlagnahmtes NS-Vermögen unzulässig und verbo-
ten. 40
Im gleichen Zusammenhang wurde von anderer Stelle darauf ver-
wiesen, daß Goebbels zu Lebzeiten seine Tagebücher dem Münche-
ner Franz Eher-Verlag, dem Zentralverlag der NSDAP, verkauft
hatte. 41 Die Konsequenz daraus wäre gewesen, daß der Bayerische
Staat die Verfügungsgewalt über die Tagebücher erhalten hätte;
denn der Eher-Verlag, der die meisten Goebbels-Schriften veröf-
fentlichte, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vom Bayerischen
Staat per Gesetz übernommen, um eine mißbräuchliche Verwen-
dung von nationalsozialistischem Propagandamaterial kraft Urhe-
berrecht zu verhindern.
Genoud und Bundesarchiv/Institut für Zeitgeschichte suchten
schließlich auf Rat des Landgerichts München den Vergleich. Mit
der am 10. September 1985 unterschriebenen Vereinbarung, der
zufolge IfZ und Bundesarchiv sich gemäß ihrer »satzungsrecht-
lichen und gesetzlichen Aufgabenbindung auf die wissenschaftliche
Erforschung des Materials und seiner Darstellung« beschränken
und die kommerzielle Verwertung des Materials dagegen Genoud
Vorbehalten bleibt, hatten beide Seiten ihr Ziel erreicht. 42 Gleich-
zeitig war mit dem Vergleich der Bundes- beziehungsweise Landes-
einrichtung mit dem Schweizer de facto ein Rechtsrahmen für die
künftige Behandlung der Urheberrechtsproblematik im Zusam-
menhang mit den Goebbels-Tagebüchern vorgegeben. 43
40 Dr.jur. Georg Romatka/Dr. jur. Ursula Romatka an das Landgericht I Mün-
chen, 7. Zivilkammer, München, den 16.4.1984, Archiv Reuth.
41 Frankfurter A ll gemeine Zeitung vom 19. 1 1 . 1988 .
42 Vereinbarung zwischen IfZ/Bundesrepublik Deutschland (BA) und Fran-
cois Genoud vom 10.9.1985, Archiv Reuth; siehe dazu auch die Begründung
des früheren IfZ-Direktors Broszat, weshalb IfZ/BA die Vereinbarung mit
Genoud eingingen. Das auf einer Pressekonferenz am 27.8.1987 verteilte Pa-
pier trägt die Überschrift: Martin Broszat: Die rechtliche Auseinandersetzung
mit Frangois Genoud.
43 Die Palette derjenigen, die sich an diese Vorgaben hielten, reicht vom Spiegel
bis zum Siedler- Verlag; sie gelten auch für die vorliegende Edition des Piper
Verlags. Es existiert bislang lediglich eine Ankündigung des Berliner FU-
Professors Bernd Sösemann, er werde sich nicht um Genouds Rechte küm-
mern. Siehe unten S. 16.
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
15
Im Herbst 1987 - zur gleichen Zeit erschienen die ersten vier
Bände der Goebbels-Tagebuch-Dokumentation des IfZ - gelang es
dem Münchener Institut, mit der Staatlichen Archivverwaltung der
DDR einen Vertrag über inzwischen aufgetauchte Tagebuch-Frag-
mente des Jahres 1944 abzuschließen. 44 Ludwig Nestler machte zur
Herkunft derselben folgende Angaben: Angeregt durch das vorge-
nannte sowjetische Filmrollen-Geschenk, habe man 1969 in der
DDR weitere Nachforschungen auf dem gesperrten Gelände der
Reichskanzlei veranlaßt. Dabei seien neun Aluminiumkisten mit
Tagebüchern gefunden worden. Der Inhalt, jahrzehntelang der
Feuchtigkeit ausgesetzt, habe sich allerdings in einem deplorablen
Zustand befunden. Immerhin sei klar erkennbar gewesen: eine der
Kisten sei mit handschriftlichen Kladden von Goebbels gefüllt ge-
wesen, deren ursprünglich mit Tinte beschriebene Blätter fast gänz-
lich ausgelaufen und unleserlich geworden waren. Die acht anderen
Kisten hätten Original-Fragmente der maschinenschriftlichen, je-
doch durch Feuchtigkeit und andere Ursachen hochgradigzerstörten
Tagebücher enthalten. Es habe sich um Tagebücher verschiedener
Jahre gehandelt, von denen die Sowjets irrtümlich geglaubt hätten, es
seien Doubletten, und sie deshalb zurückgelassen hätten. 45
Es sollte jedoch nicht zur Übergabe der bereits vom IfZ in Ost-
Berlin verfilmten Kopien des Tagebuch-Jahrgangs 1944 an das
Münchener Institut kommen. Statt dessen trat wiederum Fischer
auf den Plan. Er versuchte, in der Bundesrepublik empörte Öffent-
lichkeit ob des Vergleichs zwischen Bundesarchiv/ IfZ und dem
Goebbels-Verehrer Genoud zu schaffen. Dies tat Fischer, indem er
mit bislang im Westen unbekannten Goebbels-Tagebuch-Fragmen-
ten hausieren ging und dabei von einem in seinem Besitz befindli-
chen Konvolut von etwa viertausend Blatt sprach, darunter der
gesamte Jahrgang 1944, aber auch Teile von 1938 und 1934. 46 In
Redaktionsstuben erzählte der interessant gewordene Fischer Jour-
nalisten nun nicht mehr nur seine unglaublich klingende Ge-
44 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.11. 1988.
45 Vorwort zu TGB IfZ, S. LXXIIf.
46 Briefe Fischers an die Herausgeber der Frank furter Allgemeinen Zeitung vom
5.11.1987, an den Verleger Wolf Jobst Siedler vom 20. Januar 1988 und an
andere, sämtliche im Archiv Reuth.
16
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
schichte, wie er die Tagebücher aufgestöbert habe, sondern stellte
sich als das Opfer des damaligen Leiters des IfZ, Broszat, dessen
Ehefrau Elke Fröhlich und deren »Komplizen« Genoud dar. 47
Fischer blieb dabei der Erfolg nicht versagt. Selbst Politiker befaßten
sich nun mit dem Vergleich zwischen IfZ/Bundesarchiv und Ge-
noud. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Jürgen Vahlberg richtete
am 14. Januar 1988 sogar eine Anfrage an den Bundesinnenmini-
ster. 48
Während sich Bundesarchiv und IfZ, die zunehmend unter Druck
geraten waren, vergeblich um die Goebbels-Tagebücher bemühten,
kam es im Herbst 1988 in West-Berlin »eher zufällig« - wie Karl-
Heinz Janßen in dem Wochenblatt Die Zeit berichtete - zu einer
Begegnung zwischen Fischer und einem der vier Leiter des Instituts
für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissen-
schaften an der Freien Universität (FU) Berlin, Bernd Sösemann. 49
Das Ergebnis dieser Kontaktaufnahme, der sich Gespräche in Ost-
Berlin anschlossen, wurde Anfang November 1989 auf einer Presse-
konferenz präsentiert, an der neben Fischer und Sösemann auch der
damalige Präsident der FU, Dieter Heckeimann, teilnahm. Ange-
kündigt wurde das auf einer privatrechtlichen Abmachung zwischen
dem »Strohmann« Ost-Berlins und Sösemann basierende, die urhe-
berrechtlichen Ansprüche Genouds qua Vorankündigung in den
Wind schlagende Forschungsprojekt »Beiträge zur Restituierung
der Goebbels-Aufzeichnungen«. 50 Restituiert werden sollte »auch
das gesamte Jahr 1944«. Neben der Sammlung und Prüfung des Ma-
terials, der Erstellung eines textkritischen Apparates sollte Fischer
einen ausführlichen Einleitungsteil schreiben und damit die Über-
lieferungsgeschichte »erhellen«.
Beim Münchener Institut für Zeitgeschichte reagierte man auf die
Berliner Gegen-Edition - es hatte keinerlei Kontakte zwischen FU
und IfZ gegeben - mit Empörung. In einer Stellungnahme des sei-
nerzeitigen kommissarischen Leiters, Ludolf Herbst, heißt es, jetzt
47 Zahlreiche Unterlagen hierzu befinden sich im Archiv des Herausgebers.
48 Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Jürgen Vahlberg vom 14.1.1988 (Mo-
nat Januar 1988, Arbeits-Nrn. 106 und 107), Archiv Reuth.
49 Die Zeit\om 2.3.1990.
50 Pressemitteilung Heckeimanns und Sösemanns vom 2.11 .1989.
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
17
hätte sich die östliche Seite offenbar einen neuen Partner im Westen
gesucht, der sich gegen das Koblenzer Bundesarchiv und das IfZ
ausspielen lasse. Dies sei ein trauriges Zeichen für die Koope-
rationsbereitschaft und Kollegialität unter Historikern. Ebenso
erstaunlich sei es, daß eine überwiegend aus Bundesmitteln finan-
zierte Einrichtung wie die FU gegen das ebenfalls aus Bundesmit-
teln finanzierte Bundesarchiv und das IfZ tätig werde. 51
Auf Presseberichte, die Zusammenhänge aufzeigten, die eine na-
heliegende Beteiligung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)
nicht ausschließen wollten, reagierte Sösemann mit einer durch po-
litische Beziehungen gestützten Kampagne. 52 ln der Zeit verbreitete
Karl-Heinz Janßen flankierend die Geschichte des »behaglich seine
Pfeife schmauchend(en)«, findigen Journalisten und Schriftstellers
Fischer. 53 Die Studenten am Institut der Freien Universität fragten
hingegen kritisch, was es wohl zu bedeuten habe, wenn Sösemann
sage, »als Wissenschaftler arbeite ich mit jedem zusammen«. 54 Der
ließ wiederum verlauten, »weder er noch das Material seien bei der
Stasi-Institution gewesen«. Dies habe er auch der Berliner Wissen-
schaftssenatorin Riedmüller auf eine entsprechende Anfrage versi-
chert. Fischer sei ebenfalls bereit, eidesstattlich zu erklären, daß er
»während seiner nunmehr 20jährigen Recherche nach den Goeb-
bels-Tagebüchern niemals Berührung mit dem DDR-Staatssicher-
heitsdienst« gehabt habe. 55
Diese Behauptungen wären wohl nie angezweifelt worden, wäre
nicht wenige Tage nach der Pressekonferenz Sösemanns, Fischers
und Heckeimanns die Mauer gefallen. Wochen darauf, am 15. Ja-
nuar 1990, wurde der Gebäudekomplex der Staatssicherheit an der
Ost-Berliner Normannenstraße gestürmt. Am 30. Januar tagte erst-
mals das Bürgerkomitee zur Auflösung des MfS. Da sich in dem
Areal des Ministeriums mehrere zehntausend laufende Meter Ak-
ten befanden, waren die Feiterin des einstigen Staatsarchivs der
51 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.11.1989.
52 Siehe dazu die Briefe Sösemanns im Archiv Reuth.
53 Die Zeit vom 2.3. 1990 .
54 Lankwitz Telegraph. Studentisches Mitteilungsblatt am Fachbereich Kommu-
nikationswissenschaf ten der Freien Universität, Nr.28, 11.12.1989, S. 2.
55 Berliner Morgenpost vom 4.2. 1990.
18
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
DDR in Potsdam, Brachmann-Teubner, sowie der Direktor der
Staatlichen Archivverwaltung der DDR, Herzog, zu Rate gezogen
worden. Wie Frau Brachmann-Teubner berichtete, seien in den
Stasi-Beständen neben Akten des Reichskirchenministeriums, des
Volksgerichtshofes auch die Goebbels-Tagebücher des Jahres 1944
sowie weitere Tagebuch-Fragmente aus anderen Jahren aufgefun-
den worden. 56 Der Leiter der Staatlichen Archivverwaltung der
DDR, Nestler, der nach dem Fall der SED-Diktatur den Kontrakt
mit dem IfZ erfüllte, ergänzte dazu, daß die betreffenden Goebbels-
Tagebücher kurz nach dem Vertragsabschluß mit dem IfZ im
Herbst 1987 auf Anordnung hoher DDR-Stellen dem MfS zur wei-
teren Verwendung überstellt worden seien, er glaube sogar der
Hauptverwaltung Aufklärung. 57 Dies legt folgende Vermutung
nahe: Sösemanns Gegen-Edition wurde von einer für die Bundes-
republik zuständigen Stelle des einstigen DDR-Staatssicherheits-
dienstes eingefädelt, um IfZ und Bundesarchiv zu blamieren und zu
diskreditieren.
Eine weitere Etappe der unendlich erscheinenden Überliefe-
rungsgeschichte der Goebbels-Tagebücher begann im Jahr 1992.
Die Sunday Times und Der Spiegel veröffentlichten im Juli bislang
unbekannte Goebbels-Tagebücher aus verschiedenen Jahren, die
der britische Historiker David Irving aus dem Staatlichen Sonder-
archiv der Russischen Föderation beschafft hatte. Es handelte sich
unter anderem um Auszüge aus jenen verloren geglaubten etwa
1600 Glasplatten-Mikrofiches, die der Goebbels-Stenograph Otte
seit Herbst 1944 auf Anordnung seines Chefs angefertigt hatte.
Bereits im März 1992 war Elke Fröhlich bei einer ihr ermöglich-
ten Sichtung der sowjetischen Goebbels-Tagebücher-Bestände auf
die Glasplatten gestoßen, mit denen die Moskauer Archivare nichts
anzufangen gewußt hatten. Die sogleich aufgenommenen Verhand-
lungen zwischen der Leitung des IfZ und dem Komitee für Archiv-
angelegenheiten der Regierung der Russischen Föderation wurden
mit einem Vertrag über die wissenschaftliche Nutzung durch das
56 Mitteilung von Frau Brachmann-Teubner vom 28.5. 1990, Archiv Reuth ; dies
schrieb auch Berthold Seewald in dem bisher wohl treffendsten Bericht über
den deutsch-deutschen Tagebuch-Transfer, Die Weltvo m 26.7.1990.
57 Mitteilung von Herrn Nestler vom 25. März 1990.
Die Tagebücher des Joseph Goebbels
19
Münchener Institut abgeschlossen. Die russische Archivverwaltung
gestattete diesem zufolge dem IfZ, sämtliche Tagebuch-Texte zu
kopieren und im Rahmen der von IfZ und Bundesarchiv gemeinsam
herausgegebenen Tagebuch-Dokumentation zu veröffentlichen.
Der Kontrakt dürfte Sösemanns inzwischen inaugurierten Ge-
samt-Editions-Plänen die Grundlage entzogen haben. Denn Mos-
kau sicherte den Münchnern vertraglich zu, daß es bis zum Erschei-
nen der Edition keiner weiteren juristischen oder natürlichen
Person das Recht einräumt, die in dem Archiv vorhandenen Über-
lieferungen der Tagebücher von Joseph Goebbels in vollem Umfang
zu kopieren und zu verbreiten. Der enttäuschte Sösemann reagierte
darauf mit heftigen Attacken gegen Elke Fröhlich, der er vorwarf,
die von ihr herausgegebene Tagebuch-Dokumentation sei ein »miß-
lungener Versuch«.
Solche Angriffe vermögen nichts daran zu ändern, daß das ge-
samte verfügbare Material nunmehr vom IfZ herausgegeben wer-
den wird und ein Ende der über Jahrzehnte hinweg andauernden
Auseinandersetzung um die Goebbels-Tagebücher in Sicht ist. Mit
den Moskauer Funden hofft man in München, die meisten Über-
lieferungslücken schließen zu können. Ob dabei zu den vier vorlie-
genden Bänden der Jahre zwischen 1924 und 1941 Supplement-
Bände erstellt werden oder eine Neuauflage erscheinen wird, ist
ungewiß. Sicher ist nur, daß es noch Jahre dauern wird, bevor die
eher für den Fachhistoriker bestimmte, weil unkommentierte Edi-
tion, die den Umfang einer Großlexikon-Ausgabe erreichen dürfte,
fortgesetzt beziehungsweise abgeschlossen sein wird. Was fehlte,
war eine übersichtlich geordnete, für den zeitgeschichtlich Interes-
sierten, aber auch für den Geschichtsstudenten konzipierte Aus-
gabe der wichtigsten Goebbels-Tagebuch-Eintragungen - unter
Berücksichtigung der neuesten Moskauer Funde -, die mit einem
umfangreichen Arbeitsapparat samt erklärendem Namensregister
versehen ist. Sie liegt hiermit vor. 58
58 Zu den Auswahlkriterien der Tagebuch-Eintragungen und zur Kommentie-
rung derselben siehe die Editorischen Anmerkungen im Anhang, S. 2189 ff.
Glaube und Judenhaß als Konstanten
im Leben des Joseph Goebbels 1
Das Leben des am 29. Oktober 1897 im niederrheinischen Rheydt
geborenen dritten Sohnes des Fritz Goebbels und seiner Ehefrau
Katharina wäre wohl in gänzlich anderen Bahnen verlaufen, wäre
da nicht - wie Joseph Goebbels selbst in der Rückschau schrieb -
dieses »richtunggebende Ereignis« seiner Kindheit gewesen. 2 Er
meinte damit die Knochenmarkentzündung, an der er im Alter von
vier Jahren erkrankt war. In deren Folge verkümmerte seine rechte
Unterschenkelmuskulatur, was trotz aller Anstrengungen der Ärzte
zur Entwicklung eines Klumpfußes führte. 3
1 Die Deutung des Phänomens Goebbels reicht vom »mitreißenden, weil mit-
gerissenen Gläubigen« (Einführung Rolf Hochhuths in: Joseph Goebbels.
Tagebücher 1945. Die letzten Aufzeichnungen, Bergisch Gladbach 1980) bis
zum »Macchiavellisten der letzten Konsequenz« (Fest, Joachim C.: Das Ge-
sicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, München 1963,
S. 119ff.). Hochhuths treffender Deutung nähern sich Manvell und Fraenkel,
die in ihrer Biographie den Mann mit dem Klumpfuß als Zukurzgekommenen
darstellen, der schließlich in der Weltanschauungs- und Führergläubigkeit
Kompensation fand (Fraenkel, Heinrich/Manvell, Roger: Goebbels. Eine
Biographie, Köln/Berlin 1960). Helmut Heiber zeichnet in seinem in volks-
pädagogischer Manier geschriebenen Buch einen erbärmlichen Oppor-
tunisten, der seine pubertäre Emphase nie überwand (Heiber, Helmut: Joseph
Goebbels, Berlin 1962). Viktor Reimann sieht in Goebbels einen rationalen
Propaganda-Macher (Reimann, Viktor: Dr. Joseph Goebbels, Wien/Mün-
chen/Zürich 1971 ). Eine Auflistung der Arbeiten über Goebbels befindet sich
im Anhang dieser Edition.
2 Erinnerungsblätter, Von 1897 bis zu meinem ersten Semester 1917 in Bonn. Zu
den biographischen Angaben siehe auch im weiteren: Reuth, Goebbels.
3 Die Tatsache, daß es eben nicht jeder x-beliebige war, sondern ein Klumpfüßi-
ger, der zum großen Promoter Hitlers wurde, verweist einmal mehr den Ansatz
der Strukturhistoriker, dem zufolge letztlich die Produktionsmittel Geschichte
ausmachen, in den Bereich eines verengten ideologischen Dogmatismus.
Glaube und Judenhaß
21
Diese Behinderung blieb nicht ohne Auswirkungen auf die innere
Befindlichkeit des Knaben. Goebbels selbst legte in der neben den
Erinnerungsblättern wohl wichtigsten Quelle über seine Kindheit,
seinem autobiographischen Lebensbericht, in dem er uns als »Mi-
chael Voormann« entgegentritt, eindrucksvoll Zeugnis darüber ab,
wenn er schrieb, er habe immer gedacht, die Kameraden schämten
sich seiner. »Wenn er so sah, wie die anderen liefen und tollten und
sprangen, dann murrte er gegen seinen Gott, der ihm [. . .] das ange-
tan hatte, dann haßte er die anderen, daß sie nicht so waren wie er,
dann lachte er über seine Mutter, daß sie solch einen Krüppel noch
gern haben mochte.« 4
Da man ihn in dem streng katholischen Elternhaus, in dem er
aufwuchs, den Glauben an einen gerechten Gott lehrte, mußte die
Frage, die sich der junge Goebbels immer wieder stellte, zwangsläu-
fig lauten: »Warum hatte Gott ihn so gemacht, daß die Menschen
ihn verlachten und verspotteten? [. . .] Warum mußte er hassen, wo
er lieben wollte und lieben mußte?« 5 Da er keine Antwort darauf
fand, zweifelte er daran, daß Gott »überhaupt da sei«. Und doch
setzte er seine ganze Hoffnung in ihn, denn nur Gott gab ihm die
Zuversicht, auch er finde einmal die ersehnte Integration.
So betrachtete es der Junge wohl als das Wirken der göttlichen
Gerechtigkeit, als er erkannte, daß er auf den Gebieten des Wissens
nicht benachteiligt war. Hier würde er seine Behinderung kompen-
sieren können. Seine schulischen Leistungen und das Dazutun sei-
ner Eltern ermöglichten es ihm, von 1908 an die städtische Oberre-
alschule zu besuchen . Auch hier wollte er wiederum alle übertreffen
und arbeitete dafür vom ersten Tage an verbissen. Wenn seine Mit-
schüler ihn mitunter um Hilfe gebeten hätten - schrieb er später
zurückblickend -, dann habe er sie seine Überlegenheit spüren las-
sen und »freute [. . .] sich in seinem Inneren, denn er sah, daß der
Weg, den er ging, der richtige war«. 6
Die von seinem Deutschlehrer Voss geförderte Auseinanderset-
zung mit der Literatur inspirierte die Phantasie des Schülers. Oft
4 Michael Voormann, Teil I.
5 Ebda.
6 Ebda.
22
Glaube und Judenhaß
versetzte er sich nun in die Rolle des Helden, der er im Leben nicht
sein konnte. »Dann empfand er es nicht mehr so bitter, daß er nicht
mehr wie die anderen herumtollen konnte, dann freute er sich, daß
es auch noch für ihn, den Krüppel, eine Welt des Genießens gäbe.« 7
Etwa von 1912 an begann der Junge mit der sich ausprägenden
Autosuggestionskraft, die ihn gar nicht mehr ihn selbst sein ließ,
diese Empfindungen zu kultivieren. Die ersten Gedichte und bald
auch längeren Abhandlungen, die er schrieb, sah er als das Resultat
einer Begabung an, mit der er - so mutmaßte er - ausgestattet wor-
den sei, »wohl weil Gott ihn an seinem Körper gezeichnet hatte«. 8
Wenngleich Goebbels, der sich ob seiner Fähigkeiten eingebildet
und arrogant gebärdete, an der Oberrealschule zu den Besten
zählte, blieb er jedoch ein Außenseiter. Die Ursache dafür lag nun
nicht mehr so sehr in seiner Behinderung, sondern in seiner minde-
ren Herkunft. Als Sohn eines zum »Stehkragenproletarier« aufge-
stiegenen Tagelöhners und einer Mutter, die sich früh als Magd auf
einem Bauernhof hatte verdingen müssen, paßte er nicht auf die
Rheydter Oberrealschule und schon gar nicht auf das dieser ange-
gliederte Reformgymnasium, das er seit Ostern 1914 besuchte.
Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges änderte sich dies. Ob-
wohl durch seinen Klumpfuß nicht kriegsverwendungsfähig, ver-
spürte Goebbels jetzt erstmals in seinem Leben das Geborgenheit
vermittelnde Gefühl der großen, scheinbar alle Klassenschranken
überwindenden, vaterländischen Solidarität. So barg für den nun
dazugehörenden Goebbels der ihm bald »heilig« gewordene Krieg
nicht nur eine vorübergehende Erleichterung seiner Lebenssitua-
tion, sondern darüber hinaus die Hoffnung auf eine bessere Zu-
kunft, in der auch für ihn ein seinen Fähigkeiten angemessener Platz
zu finden sein würde.
Bestärkt wurde Goebbels in seinem Hoffen durch Wilhelm
Raabe, der ihm zum »Urbild des deutschen Idealisten und Träu-
mers« 9 wurde, hatte dieser doch in seinen Romanen eben jene
»deutsche Volksgemeinschaft« beschworen. In dem Dichter glaubte
7 Ebda.
8 Ebda.
9 Goebbels, Joseph, Wilhelm Raabe, 7.3.1916, Bestand Genoud, Lausanne.
Glaube und Judenhaß
23
er sich auch selbst wiederzuerkennen. Raabe habe stets hinaufge-
schaut in seinem Leben, »so hat er die jahrelange Zurücksetzung
ertragen können, ohne seinen Humor, seinen Lebensmut zu verlie-
ren, so hat er rastlos weitergearbeitet an seinem Lebenswerk, ge-
würdigt nur von wenigen Freunden, verkannt von fast ganz
Deutschland, aber überzeugt von seinem hohen Beruf. So hat er
weiter gestrebt, wenn nichtfür seine Mitmenschen, so dochfüreine
spätere Generation. Sind wir diese Generation?« fragte der Gymna-
siast. 10
Die weitgespannten Hoffnungen erfüllten sich für Goebbels
nicht. An die Stelle der »Volksgemeinschaft« trat der Bürgerkrieg,
nachdem der Erste Weltkrieg verlorengegangen war. Auf den von
der überzogen-pathetischen Form des Miteinanders geprägten
Goebbels - er hatte im April 1917 als Jahrgangsbester das Abitur
gemacht, in Bonn das Studium begonnen und es in Freiburg und
Würzburg fortgesetzt - wirkten die politischen Erschütterungen, die
nicht zuletzt auch das Resultat eines sozialen Konfliktes waren, der
schon weit vor der Jahrhundertwende mit der Industrialisierung sei-
nen Ausgang genommen hatte, wie auf die meisten seiner Genera-
tion, wie ein Schock - ein Schock, der den Krüppel, ob seiner an den
Sieg geknüpften persönlichen Erwartungen, um so härter treffen
mußte.
Seine Mitgliedschaft im katholischen Unitas-Verein und die Be-
ziehung zu der wohlhabenden Recklinghausener Kommilitonin
Anka Stalherm änderten nichts daran, daß der junge Mann mit dem
tiefsitzenden Minderwertigkeitskomplex in eine schwere existen-
tielle Krise geriet und immer mehr die Orientierung verlor. Die
Erinnerungsblätter verdeutlichen seine Befindlichkeit, wenn er
darin schrieb: »Ich kenne mich in der Welt nicht mehr aus.« 11
Goebbels zog daraus Konsequenzen. Er brach mit dem »Glauben
seiner Kindheit«, fühlte er sich doch von seinem katholischen, die
Gerechtigkeit verheißenden Herrgott betrogen. Immer wieder
hatte er sich mit dessen Wirken auseinandergesetzt. So auch schon
im Sommer 1918, nachdem sich der Krieg auch für ihn in unerträg-
10 Ebda.
1 1 Erinnerungsblätter, Osterferien 1919.
24
Glaube und Judenhaß
liehe Länge gezogen hatte. Damals hatte er eine »biblische Tragö-
die« verfaßt, der er den Titel Judas Iscariot 12 gegeben hatte. Es ist die
Geschichte des »Außenseiters« und »Schwärmers«, der dem folgen
will, von dem er glaubt, er errichte ein »neues, schier unermeßliches
Reich«. Als Judas der Jünger Jesu geworden ist, muß er zu seiner
Enttäuschung feststellen, daß dessen Vaters Reich nicht von dieser
Erde ist: »Und da in dieser Stunde fromme Sprüche / Einem be-
drängten Volk ins Ohr zu blasen / Zu reden von dem Reich in anderen
Welten, / Daß Herrlichkeit ohn’ Ende sei und Grenzen, / Das zeich-
net mir den kleinen Kopf und Geist«, läßt Goebbels Judas über Chri-
stus sagen. Judas verrät schließlich seinen Meister, um selbst, an Jesu
Stelle, das Reich Gottes auf dieser Erde zu verwirklichen.
Ende 1918 verließ Goebbels den katholischen Unitas-Verein und
nahm - wie er in seinen Erinnerungsblättern vermerkte - erstmals
am Heiligabend nicht an der Christmette teil. Wenngleich er sich
zunehmend vom Katholizismus abwandte, versuchte er doch wei-
terhin, Gott »zu schauen«. Dabei las er Strindbergs Werke mit ihrer
mitunter mystisch und magisch gefärbten Religiosität. Er studierte
die Schriften des romantisch-okkultistischen Dichters Gustav Mey-
rink und beschäftigte sich immer wieder mit den großen russischen
Schriftstellern Tolstoj und Dostojewskij . Vor allem von Dostojew-
skij, der in seinen Romanen slawophilen Messianismus, Über-
menschentum , Nihilismus und Sozialismus in lebendigen, oft patho-
logischen Charakteren aufeinanderprallen ließ, war Goebbels
»erschüttert«.
Nachdem sich im Winter 1920 seine Freundin Anka Stalherm
von ihm abgewandt hatte, verlor er vollends den Halt. Dank der
Zuwendung aus dem Elternhaus, wo er stets die Semester-
ferien verbrachte, schöpfte er, der »Gottsucher, der Mystiker,
der Romantiker«, wie er sich selbst sah, neuen Glauben »an einen
Gott, der vom Einzelnen mystisch erlebt wird, [. . .] (und) an eine
Welt, die gut ist«. 13 Die Verbesserung seiner Lebenssituation blieb
12 Judas Iscariot, Eine Biblische Tragödie in fünf Akten von P.J .Goebbels, Au-
gust 1918, BA Koblenz, NL 118/117.
13 Das Zitat stammt aus der Dissertation Goebbels’: Wilhelm von Schütz als
Dramatiker. Ein Beitrag zur Geschichte des Dramas der Romantischen
Schule, Phil. Diss. Heidelberg 1921.
Glaube und Judenhaß
25
Goebbels jedoch auch nach der Promotion, mit der er im November
1921 in Heidelberg sein Studium beendet hatte, versagt. Er fand
keine Anstellung, lag den Eltern nach wie vor auf dem ohnehin
schmalen Geldbeutel - kurzum: er blieb trotz des Doktortitels der
belächelte komische Krüppel. Im Januar 1923 erhielt er auf Ver-
mittlung seiner neuen Freundin, der Rheydter Lehrerin Else Janke,
doch noch einen nur widerwillig angenommenen Posten bei einer
Filiale der Dresdner Bank in Köln-Klettenberg. Bereits im Septem-
ber kündigte man ihm. Nach Wochen des Hungers und der Entbeh-
rung kehrte er schließlich, zudem erschüttert durch den Tod seines
besten Freundes, Richard Flisges, krank an Körper und Seele wie-
der ins Rheydter Elternhaus zurück.
Infolge seiner als hoffnungslos empfundenen Lage »zertrüm-
merte« ein sich und die Menschen hassender Goebbels schließlich
seine bisherige Glaubenswelt. Er, der so lange vergeblich auf die
Gerechtigkeit des Christen-Gottes gehofft hatte, schuf sich nun sei-
nen eigenen Gott. In seinem Tagebuch-Roman 14 , den er im selben
Jahr schrieb, legte Goebbels seinem Helden Michael die Worte in
den Mund, woran man glaube, sei gleichgültig, wichtig sei, daß man
glaube. Goebbels erhob damit seinen Glauben selbst zu Gott. Je
mehr er glaube, desto stärker werde er selbst, schloß er folgerichtig.
Nichts anderes heißt es, wenn er seinen Roman-Helden sagen ließ:
»Je größer und stärker ich Gott [also den Glauben, d. Hrsg.] mache,
desto größer und stärker werde ich selbst.« 15 Mit anderen Worten:
Ein aus Verzweiflung und Haß geborener fanatischer Glaube an
eine bessere Zukunft sollte die bittere Wirklichkeit seines Daseins
überwinden helfen.
So wie Goebbels für sich einen Ausweg gesucht hatte, suchte er
ihn auch für die deutsche Nation, deren Not er mit der seinen sym-
14 Michael 1923; vgl. dazu: Singer, Hans-Jürgen: Michael oder der leere Glaube,
in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts,
2. Jg., Oktober 1987, Heft 4, S. 68 ff. ; McMasters Hunt, Richard: Joseph
Goebbels: A Study of the Formation of his National-Socialist Consciousness
(1897-1926), Phil. Diss. Harvard University, Cambridge, Massachusetts
1960, S. 44 ff. ; Barsch, Claus-Ekkehard: Erlösung und Vernichtung. Dr. phil.
Joseph Goebbels. Zur Psyche und Ideologie eines jungen Nationalsozialisten
1923 bis 1927, München 1987.
15 Michael 1923, 1. Juni.
26
Glaube und Judenhaß
biotisch verbunden sah. Ausgangspunkt war ihm dabei nach wie vor
seine Vision von der »Volksgemeinschaft«, die er in verklärtem
Rückblick auf das Jahr 1914 in Ansätzen erlebt zu haben glaubte. Im
»System« von Weimar mit seinen konkurrierenden Parteien sah er
den Widerpart dazu. So näherte sich Goebbels, der aus seiner Fami-
lientradition heraus bei den Wahlen zur Weimarer Nationalver-
sammlung im Januar 1919 noch die bayerische Landesorganisation
des Zentrums, die Bayerische Volkspartei, gewählt hatte, fast
zwangsläufig jenen, die Vorgaben, diese Republik durch eine »ge-
rechte Gesellschaft« ersetzen zu wollen.
Als nach dem gescheiterten Kapp-Putsch im Ruhrgebiet eine
deutsche Rote Armee gegen die Republik marschierte, war er »aus
der Ferne begeistert«. 16 An Anka Stalherm schrieb er: »Kann man
es da den Millionen verdenken, wenn sie für ihre Interessen, und
auch nur für ihre Interessen eintreten? Kann man es ihnen verden-
ken, wenn sie eine internationale Gemeinschaft anstreben, deren
Ziel der Kampf gegen den korrupten Kapitalismus ist? Kann man es
verurteilen, wenn ein großerTeil der gebildeten Stürmerjugend da-
gegen angeht, daß die Bildung käuflich ist und nicht dem zuteil wird,
der die Befähigung dazu hat? Ist es nicht ein Unding, daß Leute mit
den glänzendsten geistigen Gaben verelenden und verkommen,
weil die anderen das Geld, das ihnen helfen könnte, verprassen,
verjubeln und vertuen?« 17
Schon Ende 1919 hatte Goebbels ein Fragment eines Dramas mit
dem Titel Der Kampf der Arbeiterklasse™ geschrieben. Im März des
darauffolgenden Jahres propagierte er in seinem Drama Die Saat™
den »neuen Menschen«, der wisse, daß »wir alle Glieder einer Kette
sind. [. . .] Glieder gleich groß und gleich klein«. Wenn die Arbeiter
erst erwachten und sich gegen Knechtschaft und Unterdrückung
auflehnten, legten sie die Saat für das »Geschlecht, das heranreift,
dem starken, schönen des neuen Menschen«. Obgleich er sich auf
16 Erinnerungsblätter, Osterferien 1920 in Rheydt.
17 Joseph Goebbels an Anka Stalherm am 14.4.1920, BA Koblenz, NL 118/126.
18 Kampf der Arbeiterklasse. Drama von Joseph Goebbels, 1919/1920, Bestand
Genoud, Lausanne.
19 Die Saat. Ein Geschehen in drei Akten von P. Joseph Goebbels, 1920, BA
Koblenz, NL 118/117.
Glaube und Judenhaß
27
Richard Flisges’ Rat hin auch mit den Schriften der materialisti-
schen Theoretiker Marx und Engels auseinandersetzte, schienen
ihm doch - wie er seiner Dissertation über den Dichter der Roman-
tik, Wilhelm Schütz, aus Dostojewskijs Dämonen zum Geleit voran-
stellte, »Vernunft und Wissen [...] im Leben der Völker stets nur
eine zweitrangige, eine untergeordnete Rolle (zu spielen) - und das
wird ewig so bleiben. Von einer ganz anderen Kraft werden die Völ-
ker gestaltet, deren Ursprung vielleicht unbekannt und unerklärlich
bleibt, die aber nichtsdestoweniger vorhanden ist.« 20 Wiederum
Dostojewskijs Visionen, diesmal von dem Glauben an Gott als dem
großen Integrationsmoment des Volkes, der »synthetischen Persön-
lichkeit des ganzen Volkes«, als dem »Körper Gottes«, zogen ihn in
den Bann.
Immer mehr setzte sich bei dem materiell benachteiligten Goeb-
bels die vermeintliche Erkenntnis durch, daß der Materialismus die
Wurzel allen Übels sei. Neben anderen Schriften war es insbeson-
dere die Lektüre von Spenglers Untergang des Abendlandes, die ihm
solches näherbrachte. 21 In der Geschichtsmorphologie des Nietz-
sche-Epigonen las Goebbels, daß alle Kulturen ewigen Daseins-
gesetzen vom Werden und Vergehen unterworfen seien; er las vom
materialistischen Zeitalter der Industrie, der »Zivilisation«, die der
Anfang vom Ende aller »Kultur« sei. Und er sah - wie die meisten
seiner Generation - das teilweise schon vor dem Weltkrieg Ge-
schriebene durch die deutsche Gegenwart bestätigt.
Seit 1922 begann Goebbels zwischen dem zunehmend verhaßten
Materialismus und dem Judentum einen Zusammenhang herzustel-
len. In seinem Elternhaus hegte man nicht mehr und auch nicht we-
20 Wilhelm von Schütz als Dramatiker. Ein Beitrag zur Geschichte des Dramas
der Romantischen Schule, Phil. Diss. Heidelberg 1921 .
21 Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morpho-
logie der Weltgeschichte, München 1923; Goebbels schrieb darüber: »Ich
liebe Spenglers Buch sehr und verdanke ihm manche kostbare Stunde. Das
aber kann mich nicht davon abhalten, zu behaupten, daß das Buch unserem
deutschen Geiste mehr geschadet denn genutzt hat; aber leider haben viele
daraus einen krankhaften Pessimismus geschöpft, und Pessimismus ist heute
mehrdennje Gift für unseren Volkskörper. Spenglers Buch kam zur verkehr-
ten Zeit«; aus: Goebbels, Joseph: Vom Sinn unserer Zeit, in: Westdeutsche
Landeszeitung vom 6.2.1922.
28
Glaube und Judenhaß
niger Vorurteile als anderswo im katholischen Kleinbürgertum. Die
jüdischen Bürger galten als besonders klug und befähigt im Umgang
mit Geld, was jedoch nichts daran änderte, daß man in ihnen ganz
normale Deutsche sah, nicht zuletzt auch deshalb, weil auch sie im
Weltkrieg für Kaiser und Vaterland im Felde gestanden hatten.
Nachdem sich Vater Goebbels hochgearbeitet hatte, pflegte seine
Familie freundschaftliche Kontakte zu einem jüdischen Advoka-
ten. 22 Man war stolz darauf, hob dies doch die eigene Reputation.
Als Gymnasiast und auch während der Studienzeit hatte Joseph
Goebbels Dr. Josef Joseph - so hieß der Rheydter Rechtsanwalt -
manchmal besuchen dürfen, um sich mit ihm über Literatur zu un-
terhalten. Entsprechend äußerte er sich während eines Disputs über
den Literaturgeschichtler Adolf Bartels gegenüber Anka Stalherm:
»Du weißt ja, daß ich dieses übertriebene Antisemitentum nicht be-
sonders leiden mag. [. . .] Ich kann ja auch nicht gerade sagen, daß
die Juden meine besonderen Freunde wären, aber ich meine durch
Schimpfen oder gar durch Pogrome schafft man sie nicht aus der
Welt, und wenn man es auf diese Weise könnte, dann wäre das sehr
unedel und menschenunwürdig.« 23 Goebbels meinte damals, es sei
das beste Mittel gegen ihre angebliche Dominanz, die Dinge besser
zu machen. Dies versuchte er durch das Studium bei dem von ihm
verehrten jüdischen Germanisten Gundolf. Schließlich promovierte
er bei dem von ihm ebenfalls geschätzten »Halbjuden« von Wald-
berg.
In den Erinnerungsblättern findet sich im Jahre 1922 eine Eintra-
gung zu einem Streit mit seiner Freundin Else Janke, in dessen Folge
er erfuhr, daß sie die Tochter einer jüdischen Mutter und eines
christlichen Vaters sei. Goebbels notierte, daß der »erste Zauber«
dahin sei. 24 Aber er änderte seine Haltung ihr gegenüber nicht,
22 Offener Brief des in die Vereinigten Staaten emigrierten Dr. Josef Joseph an
den Reichspropagandaminister, veröffentlicht im November 1944 in der
amerikanischen Presse, zitiert nach: Erckens, Günter: Juden in Mönchen-
gladbach. Jüdisches Leben in den früheren Gemeinden M. Gladbach, Rheydt,
Odenkirchen, Giesenkirchen-Schelsen, Rheindahlen, Wickrath und Wanlo,
Bd.2, Mönchengladbach 1988, S. 189f.
23 Joseph Goebbels an Anka Stalherm am 17.2.1919, BA Koblenz, NL 118/126.
24 Erinnerungsblätter, Von März 1921 bis J anuar 1923 in Rheydt.
Glaube und Judenhaß
29
wenngleich für ihn eine »Judenfrage« bereits existierte. Offenbar
hatte ihm wiederum die Lektüre Spenglers solche Gedanken näher-
gebracht. Während eines Vortrages 25 im Oktober J922, in dem er
über die deutsche Literatur der Gegenwart sprach, fand er zwar
noch für seinen akademischen Lehrer Gundolf höchst anerken-
nende Worte, erachtete aber gleichwohl Spenglers Ansichten über
das Judentum als »von eminenter Bedeutung«. Es scheine ihm, daß
»hier die jüdische Frage an der Wurzel erfaßt ist. Man sollte anneh-
men, daß dieses Kapitel eine geistige Klärung der Judenfrage her-
beiführen müßte.« Erst seine Erfahrungen und Einsichten bei der
Dresdner Bank, in jenem »Tempel des Materialismus«, wo er die
Inflation erlebte und aus allernächster Nähe mitansehen mußte, wie
kleine Leute ihr Erspartes verloren und mitunter jüdische Spekulan-
ten Reichtümer erwarben, rückten für Goebbels dieses Problem in
den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Die Folge war, daß die »Ras-
senfrage«, deren anatomische Komponente er aus naheliegenden
Gründen stets ausklammern sollte, allmählich auch sein Verhältnis
zu Else Janke trübte. Anfang November 1923 gelangte nämlich die
Lehrerin zu der Überzeugung, daß Goebbels »in dieser Hinsicht
ganz entschieden übertrieben« denke. 26
Zu diesem Zeitpunkt gehörte bereits Houston Stewart Chamber-
lains Schrift Grundlagen des 19. Jahrhunderts, die Goebbels im Som-
mer 1922 gelesen hatte, 27 zu seinem »Fundus«. Der Brite hatte die
Rassenlehre des Franzosen Gobineau, die dieser in seinem Versuch
über die Ungleichheit der Menschenrassen (französische Ausgabe 4
Bände, 1853 —55) 28 aufgestellt hatte, »weiterentwickelt« und war
dabei zu der Erkenntnis gelangt, daß der Arier »die Seele der Kul-
tur« sei und es nur zwei Rassen gebe : die arische und die jüdische.
Erstere, die das Vermächtnis des Altertums - die griechische Kunst
25 Goebbels, Joseph: Ausschnitte aus der deutschen Literatur der Gegenwart
(Vortrag gehalten am 30.10.1922), Bestand Genoud, Lausanne.
26 Else Janke an Joseph Goebbels am 4.11.1923, Bestand Genoud, Lausanne.
27 Erinnerungsblätter, Von Januar bis August 1923 in Cöln (Dresdner Bank);
Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhun-
derts, München 1899 (weiterhin zitiert als: Chamberlain, Grundlagen).
28 Comte de Gobineau, Joseph Arthur: Versuch über die Ungleichheit der Men-
schenrassen, Berlin 1934.
30
Glaube und Judenhaß
und Philosophie, das römische Recht und das Christentum - in sich
trage, sei als »Herrenrasse« dazu auserwählt, den herrschenden
materialistischen Zeitgeist zu überwinden und ein neues Weltalter
herbeizuführen. Voraussetzung dafür sei die »Reinhaltung«, denn
»edle Menschenrassen werden durch das semitische Dogma vom
Materialismus, das sich in diesem Falle und im Gegensatz zum Chri-
stentum, frei von allen arischen Beimischungen erhalten hatte, für
immer entseelt und aus dem ins >Helle strebenden Geschlecht aus-
geschlossen«. 29 Nachdem Goebbels später mit Chamberlain in
Bayreuth zusammengetroffen war, notierte er euphorisch in sein
Tagebuch, dieser sei der »Bahnbrecher«, »Wegbereiter«, ja »Vater
unseres Geistes«. 30
Goebbels sah in den Juden nun immer mehr die Verkörperung
des Materialismus, des Bösen schlechthin, des »Anti-Christen« 31
und damit die konkret Schuldigen am Übel dieser Welt. Da sich aus
dem Judentum nicht nur die Protagonisten des ihm eigenen seelen-
losen materialistischen Kapitalismus und seiner demokratischen
Ordnung rekrutierten, sondern auch viele der führenden Vertreter
des Kommunismus, schloß Goebbels, daß der Marxismus »eine jü-
dische Mache« sei, »die darauf ausgeht, die rassebewußten Völker
zu entmannen und zu entsittlichen«. 32 Jüdischer Kapitalismus und
dessen »Mache« Marxismus, oder, wie es Goebbels später sagte,
»Börse und Marxismus«, verfolgten seiner Auffassung zufolge nur
ein Ziel: »die restlose Beseitigung jeglicher nationaler Herrschaft,
Überführung aller Wirtschaft unter die Herrschaft des Einen: des
Börsenkapital Judas!« 33 In Weltkrieg und »Systemzeit« sah Goeb-
bels die Indizien dafür.
Was »das Kapital« anlangte, so differenzierte Goebbels später,
nachdem er in die Politik gefunden hatte. Im Jahre 1924/25 schrieb
29 Chamberlain, Grundlagen, S. 259.
30 Eintrag vom 8.5.1926.
31 In Michael 1929 schrieb Goebbels unter dem 15. November (S. 82): »Christus
ist der erste Judengegner von Format. >Du sollst alle Völker fressen!< Dem
hat er den Krieg angesagt. Deshalb mußte das Judentum ihn beseitigen.
Denn er rüttelte an den Fundamenten seiner zukünftigen Weltmacht.«
32 Joseph Goebbels in der Völkischen Freiheit \ om 15.11 . 1924.
33 Goebbels, Joseph: Lenin oder Hitler? Eine Rede, Zwickau 1926, S. 21.
Glaube und Judenhaß
31
er von »einem schaffenden Kapital« im industriellen Sektor und
dem »Börsenkapital« als dem Hauptfeind der »nationalsozialisti-
schen deutschen Freiheit«. 34 »Das Börsenkapital ist kein schaffen-
des, sondern ein schmarotzerisch-raffendes Kapital. Es ist nicht
mehr erdverbunden, sondern bodenlos und international, es arbei-
tet nicht produktiv, sondern es hat sich in den normalen Verlauf der
Produktion hineingedrängt, um aus ihr Prozente zu ziehen. Es be-
steht in mobilen Werten, d. h. in barem Gelde, sein Hauptträger ist
die jüdische Hochfinanz, die das Bestreben hat, die schaffenden
Völker für sich arbeiten zu lassen, und dabei noch die Erträge der
Arbeit in die eigene Tasche zu stecken.« 35 Das »Börsenkapital« mit
seinem »Aushängeschild«, dem parlamentarisch-demokratischen
System, arbeite mit den Führern des Marxismus Hand in Hand, weil
sie derselben jüdischen Rasse entstammten.
Goebbels unterschied - wohl auch seiner Vorliebe für Rußland
und seiner Dramatiker wegen - zwischen Marxismus und Bolsche-
wismus - eine Differenzierung, von der er später unter dem Einfluß
Hitlers abrücken sollte. Im Bolschewismus sah er den Erben des
russischen Nationalismus. Kein Zar - so Goebbels im Jahre 1925 36 -
habe das russische Volk in seinen Instinkten so verstanden wie
Lenin, der im Gegensatz zu den deutschen Kommunisten kein inter-
nationalistischer Marxist sei. »Lenin opferte Marx und gab dafür
Rußland die Freiheit. Sie (die Führer der KPD, der Verf.) wollen
die deutsche Freiheit nun Marx opfern.« 37 Goebbels’ politischen
Vorstellungen zufolge war der Kommunismus demnach nur so lange
verderblich, solange er internationalistisch, also antinationalistisch,
daß heißt marxistisch und ihm damit jüdisch gelenkt erschien.
Goebbels bezeichnete sich angesichts dieser Betrachtungsweise im
Jahre 1923 selbst als einen »deutschen Kommunisten«, 38 schien ihm
34 Goebbels, Joseph: Das kleine A.B.C. des Nationalsozialisten, handschrift-
licher Entwurf vom Oktober 1925, BDC; siehe dazu TGB vom 26.10.1925.
35 Ebda.
36 Nationalsozialistische Briefe vom 15.10.1925; vgl dazu: Schüddekopf, Otto-
Ernst: Nationalbolschewismus in Deutschland 1918-1933, Frankfurt a. M./
Berlin/Wien 1972, S. 176 ff.
37 Ebda.
38 Erinnerungsblätter, Von Januar bis August 1923 in Cöln (Dresdner Bank).
32
Glaube und Judenhaß
ein solcher doch im wesentlichen mit einem »nationalen Sozialisten«
identisch. 39
Aus all dem ergab sich für Goebbels etwa von Ende 1923 an eine
»unerbittliche Logik«, nämlich diejenige, daß der Weg in eine »bes-
sere Welt« über den Existenzkampf gegen das »internationale Ju-
dentum« führen müsse. 40 Denn nicht nur der Untergang der deut-
schen Nation, sondern auch der des Abendlandes, den Spengler
durch den Übergang von der »Kultur« zum seelenlosen materialisti-
schen Endzeitalter, der »Zivilisation«, vorausgesagt hatte, konnte
nach Goebbels’ Sicht der Dinge durch die »Ausschaltung« des Ju-
dentums verhindert werden. Die in der Geschichte einzigartige
Größe der Aufgabe mußte dabei alle Mittel und Wege rechtferti-
gen.
Was 1923 noch die Theorie eines ausgegrenzten Krüppels war,
sollte, nachdem er auf Ähnlichdenkende stieß, zum untrennbaren
Beiwerk seines Glaubens werden, der von ihm seinerseits bald zum
Spezifikum einer neuen Politik erhoben wurde. So wie er sich von
einem Fetisch Glauben das Heil versprach, sollte die Bewegung, der
er sich 1924 anschloß, durch den Glauben zum Sieg gelangen. Im
Jahr 1925 umschrieb Goebbels das Wesen nationalsozialistischer
Politik dahingehend, daß sie nicht mehr »die Kunst des Möglichen
ist. Was wir wollen ist nach den Gesetzen der Mechanik unerreich-
bar und unerfüllbar. Wir wissen das. Und dennoch handeln wir nach
der Erkenntnis, weil wir an das Wunder, an das Unmögliche und
Unerreichbare glauben. Für uns ist die Politik das Wunder des Un-
möglichen.« 41
Entscheidend für die Entfesselung von Glauben und Judenhaß
war für Goebbels der Mittler, die Inkarnation dieses Glaubens, ge-
39 Vgl. dazu: Zitelmann, Rainer: Nationalsozialismus und Antikommunismus,
in Uwe Backes/ Eckhard Jesse/Rainer Zitelmann (Hrsg.): Die Schatten der
Vergangenheit. Impulse zur Historisierung des Nationalsozialismus, Frank-
furt a. M. /Berlin 1990, S. 218ff.
40 Goebbels, Joseph: Lenin oder Hitler? Eine Rede, Zwickau 1926, S. 21 ; dort
schreibt Goebbels von der »unerbittlichen Logik dessen, was sein muß und
was wir zu tun gewillt sind, weil es eben sein muß«.
41 Goebbels, Joseph: Die Führerfrage, in: Goebbels, Joseph: Die zweite Revo-
lution. Briefe an Zeitgenossen, Zwickau 1926, S. 6 (weiterhin zitiert als:
Goebbels, Führerfrage).
Glaube und Judenhaß
33
worden. Schon in seiner Dissertation hatte er beklagt, nirgendwo sei
das »starke Genie, das auf dem Chaos der Zeit auf neuen Wogen zu
neuen Zeiten führt«. Im Juni 1923 sehnte er den neuen »Florian
Geyer« herbei, der »der deutschen Zwietracht den Dolch mitten ins
Herz hineinstößt«. 42 In seinem Tagebuch-Roman Michael ließ er im
selben Jahr seinen Helden nach demjenigen Ausschau halten, der
einen Weg wisse. Als das Buch 1929 beim Münchener Eher-Verlag
erschien, hat der Held in Hitler den »Auserwählten« »geschaut«.
Aufmerksam geworden war Goebbels auf Hitler, als dieser im
November 1923 zur Feldherrnhalle marschierte. Den, »der da kom-
men werde«, begann Goebbels jedoch erst während des Münchener
Hochverratsprozesses im Februar 1924 in Hitler zu sehen. Hitler
habe ihm »aus der Seele« gesprochen, schrieb er später, 43 denn er
habe mehr zum Ausdruck gebracht als »eigene Qual und eigenen
Kampf. Da nannten Sie die Not einer ganzen Generation, die in
zerfahrener Sehnsucht nach Männern und Aufgaben sucht. [...]
Was Sie da sagten, das ist der Katechismus neuen politischen Glau-
bens in der Verzweiflung einer zusammenbrechenden, entgötterten
Welt. Sie verstummten nicht. Ihnen gab ein Gott zu sagen, was wir
leiden. Sie faßten unsere Qual in erlösende Worte, formten Sätze
der Zuversicht auf das kommende Wunder.« 44
Hitler drang nun immer stärker in Goebbels’ Bewußtsein ein. Sei-
ner Rolle haftete etwas von einer Erscheinung an, hatte er doch die
politische Bühne so schnell wieder verlassen , wie er sie vorher betre-
ten hatte. Gerade weil er Goebbels fremd war, weil man nichts von
ihm aus der Landsberger Festungshaft hörte, weil über ihn weniger
gesprochen als gerätselt wurde, weil vieles verklärt wurde, begann
Goebbels, seine Sehnsucht auf ihn zu projizieren. Als er im Herbst
1924 einziger Redakteur eines Kampfblättchens namens »Völkische
Freiheit« wurde, das der deutsch-völkische Reichstagsabgeordnete
Wiegershaus in Wuppertal-Elberfeld herausgab,, feierte er Hitler als
den »großen deutschen Apostel«, 45 als »die Inkarnation unseres
42 Goebbels, Joseph: Aus meinem Tagebuch, 1923, BA Koblenz, NL 118/126.
43 Goebbels, Führerfrage, S. 7.
44 Ebda.
45 Völkische Freiheit vom 15. 1 1 . 1924.
34
Glaube und Judenhaß
Glaubens und unserer Idee«, 46 einer Idee, die mit dem Führerprin-
zip ihre Vollendung finden sollte.
Über Gregor Strasser - Hitlers Sachwalter in Norddeutschland -
gelangte Goebbels schließlich in die Nähe Hitlers. Auf einer Gaulei-
tertagung im thüringischen Weimar am 12. Juli 1925 begegneten
sich beide Männer erstmals, 47 Anfang November in Braunschweig
ein zweites und noch im selben Monat ein drittes Mal. »Wie lieb ich
ihn«, schrieb Goebbels nach dieser Begegnung. 48 Und kurz darauf:
Er habe in »tiefster Seele« die »Beglückung« gefühlt, hinter einem
Mann zu stehen, der den Willen zur Freiheit in seiner ganzen Person
verkörpere. »Bis dahin waren Sie mir Führer. Da wurden Sie mir
Freund. Ein Freund und Meister, dem ich mich bis zuletzt in einer
gemeinsamen Idee verbunden fühle.« 49
An anderer Stelle bekannte Goebbels, der sich inzwischen in der
Bewegung einen Ruf als Redner gemacht hatte: »Ich stehe vor ihm
erschüttert. So ist er: wie ein Kind, lieb, gut, barmherzig. Wie eine
Katze listig, klug und gewandt, wie ein Löwe, brüllend-groß und
gigantisch . Ein Kerl , ein Mann . Vom Staate spricht er. Nachmittags
46 Ebda., 10.1.1925.
47 Karl Kaufmann berichtete den Goebbels-Biographen Fraenkel und Manvell
(Fraenkel, Heinrich /Manvell, Roger: Goebbels. Eine Biographie, Köln/
Berlin 1960, S. 95), daß die erste Begegnung zwischen Goebbels und Hitler
im Herbst 1925 in Elberfeld stattgefunden habe. Kaufmann muß sich jedoch
geirrt haben, denn in Goebbels’ Elberfelder Tagebuch, das am 12.8.1925 be-
ginnt, findet sich vor dem 2. bzw. 6.1 1.1925 keine Eintragung über eine sol-
che Begegnung. Der Tagebuch-Eintragung vom 6.11. 1925 zufolge begegnete
Goebbels Hitler in Braunschweig. Da beide Eintragungen eindeutig darauf
schließen lassen, daß es sich nicht um die erste Begegnung handeln kann,
muß diese in der Überlieferungslücke der Goebbels-Tagebücher vom
10.6.1925 bis zum Beginn der Elberfelder Tagebücher am 12.7.1925 stattge-
funden haben. Da sich weder in der Memoiren-Literatur noch in den Quellen
ein Hinweis findet, daß sich Hitler im Sommer 1925 in Elberfeld aufhielt
(wohl aber ein Besuch im dortigen Vereinshaus im Juni des Jahres 1926 man-
nigfach belegt ist), ist die Vermutung berechtigt, daß Goebbels und Hitler
sich erstmals auf der Weimarer Gauführer-Tagung am 12.7.1925 begegneten,
zumal sich in der im Juli 1928 endenden Kladde des Goebbels-Tagebuchs die
Eintragung befindet: »Juli 25 Hitler Weimar [. . .] November 25 Hitler Braun-
schweig [. . .]«. Siehe unten S. 309 f.
48 Eintrag vom 23.11 .1925.
49 Goebbels, Führerfrage, S. 8.
Glaube und Judenhaß
35
von der Gewinnung des Staates und dem Sinn der politischen Revo-
lution. Gedanken, wie ich sie wohl schon dachte, aber noch nicht
sprach. Nach dem Abendessen sitzen wir noch lange im Garten des
Marineheims, und er predigt den neuen Staat und wie wir ihn er-
kämpfen. Wie Prophetie klingt das. Droben am Himmel formt sich
eine weiße Wolke zum Hakenkreuz. Ein flimmerndes Licht steht
am Himmel, das kein Stern sein kann. Ein Zeichen des Schick-
sals?« 50
So wie hier Goebbels das Bild von der sich zum Hakenkreuz for-
menden Wolke der Spätantike entlehnte - Konstantin dem Großen
soll der Überlieferung nach vor der Schlacht bei der Milvischen
Brücke ein Kreuzzeichen am Himmel erschienen sein und eine
Stimme gesagt haben »In diesem Zeichen wirst Du siegen!« -,
begann Goebbels, dem Nationalsozialismus Formeln und äußere
Formen seines pseudo-religiösen Repertoires gleichsam »überzu-
stülpen«. Die Parteitage wurden ihm zu »Hochämtern«, die SA-Ap-
pelle zu »religiösen Feiern«. Hitler, der »Messias«, das »Werkzeug
der Vorsehung«, kam mit dem Flugzeug vom Himmel hoch, im Ke-
gel gewaltiger Scheinwerfer herab zu seiner Gefolgschaft.
Goebbels, von Hitler Ende 1926 als neuer Gauführer nach Berlin
entsandt, begriff sich nun zusehends als dessen »erster Prediger«.
Weniger seine organisatorische Arbeit als die seiner Propaganda zu-
grundeliegende Idee vom Glauben an eine »gerechte Welt«, an ein
Drittes Reich, in das ein Adolf Hitler allem Widerstand des Juden-
tums zum Trotz führen werde, bildeten das Geheimnis seines zu-
nächst schleppenden, dann immer stärker durchschlagenden Er-
folgs. Dabei sei es nicht notwendig, schrieb Goebbels, daß diese
Idee erkenntnisreich in einem dicken Buch dargelegt werde, viel-
mehr müsse sie nur ein »ganz knappes und populär verständliches
Thema« beinhalten, um dann in prophetischer Schau vorwegzu-
nehmen: »Sie werden niemals Millionen von Menschen finden, die
für ein Wirtschaftsprogramm ihr Leben lassen. Aber Millionen
von Menschen werden einmal bereit sein, für ein Evangelium zu
fallen.« 51
50 Eintrag vom 24.7. 1926.
51 Goebbels, Joseph: Erkenntnis und Propaganda, Redevom9. Januar 1928, in:
36
Glaube und Judenhaß
Als Hitler im Januar 1933 die Macht übergeben wurde, sah der
Berliner Gauleiter darin den Beweis für die Richtigkeit dieser Idee,
vor allem aber die Bestätigung seines Glaubens. Welche Ratio hätte
dem nach Heil schreienden arbeitslosen Krüppel des Jahres 1923
und dem gestrandeten Gefreiten des Weltkrieges mit dem grotesk
wirkenden Sendungsgehabe eine solche Zukunft verheißen kön-
nen? »Ist es nicht ein Wunder«, so sollte Goebbels später fragen,
»daß ein einfacher Weltkriegs-Gefreiter die Häuser der Hohenzol-
lern und Habsburger abgelöst hat?« 52 Was Goebbels dabei als »gro-
ßes Wunder« erschienen sein mochte, war freilich das Wirken histo-
rischer und politischer Kräfte sowie die besondere Konstellation der
aus ihnen hervorgegangenen Protagonisten, was keinesfalls zwangs-
läufig zu diesem 30. Januar 1933 hätte führen müssen.
Immer wieder neue Triumphe Hitlers und des Nationalsozialis-
mus banden Goebbels an »seinen Führer« - die »Heimkehr« der
Saar, die von den Westmächten hingenommene handstreichartige
Besetzung des Rheinlandes. Über die sich im März 1936 daran an-
schließende Volksabstimmung verkündete der Reichsminister für
Volksaufklärung und Propaganda im Großdeutschen Rundfunk,
sich selbst die Vision von der »Volksgemeinschaft« suggerierend:
»Man hatte das Gefühl, als sei Deutschland in ein einziges großes,
alle Stände, Berufe und Konfessionen umschließendes Gotteshaus
verwandelt worden, in dem nun sein Fürsprecher vor den hohen
Stuhl des Allmächtigen trat, um Zeugnis abzulegen für Wille und
Werk und seine Gnade und seinen Schutz zu erflehen für eine Zu-
kunft, die noch ungewiß und undurchdringlich vor unseren Augen
lag. [. . .] Das war Religion im tiefsten und geheimnisvollsten Sinne.
Da bekannte sich eine Nation durch ihren Sprecher zu Gott und
legte ihr Schicksal und Leben vertrauensvoll in seine Hände.« 53
Mit Hilfe des gewaltigen gleichgeschalteten Propaganda-Appara-
tes rückte Goebbels Hitler, der einst versprochen hatte, das
»Schanddiktat von Versailles« zu tilgen, und der es getilgt hatte, in
Signale der neuen Zeit. 25 ausgewählte Reden von Dr. Joseph Goebbels
(1927-1934), München 1934, S. 44 f.
52 Goebbels’ Ansprache vom Oktober 1938, zit. nach: Der Verführer. Anmer-
kungen zu Goebbels, ZDF-Dokumentation.
53 Völkischer Beobachter vom 20.4.1936.
Glaube und Judenhaß
37
übermenschliche Sphären. Hitler, »der Einsame«, »das Genie« und
immer wieder das »Werkzeug der Vorsehung«, galt alsbald als un-
fehlbar. Für all das Schlechte, etwa die Verfolgung der Andersden-
kenden, vor allem aber der Juden, waren andere verantwortlich.
»Wenn das der Führer wüßte«, hieß die damals in Deutschland gän-
gige Redewendung, mittels der man Hitler von solchem freisprach -
einen Hitler, der in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, als
Österreich und das Sudetenland »angeschlossen« worden waren,
zum Mythos wurde. 54 Jener Mythos, dessen Schöpfer zu sein die
eigentliche historische Bedeutung des Joseph Goebbels war, ver-
pflichtete die Deutschen in unverbrüchlicher Gefolgschaft auf ihren
Führer und schuf damit eine der zentralen Voraussetzungen für des-
sen späteren schrankenlosen Expansionskrieg.
Freilich, vieles von dem, was Goebbels in den dreißiger Jahren
über die gleichgeschalteten deutschen Medien verkündete, war
auch in seinen Augen Inszenierung, denn sein einst aus Not und Haß
entsprungener Glaube hatte unter den Segnungen des ihm zuteil
gewordenen Aufstieges gelitten. Erschüttert wurde er jedoch, als
das strategische Kalkül Hitlers, der soeben die Welt durch den Pakt
mit Stalin aufgeschreckt hatte, im September 1939 nicht mehr auf-
ging, England und Frankreich den deutschen Einmarsch in Polen
nicht mehr hinnahmen und dem Reich den Krieg erklärten. Das
»Werkzeug der Vorsehung«, der unfehlbar geglaubte Hitler, hatte
sich als fehlbar erwiesen. Erst als dieser nach dem siegreichen Blitz-
krieg gegen Polen im Münchener Bürgerbräukeilerdas Attentat des
schwäbischen Möbeltischlers Johann Georg Elser wie durch ein
Wunder überlebte, fand Goebbels, der dem Krieg skeptisch gegen-
übergestanden hatte, zu seinem unverbrüchlichen Glauben zurück.
In sein Tagebuch notierte er voller Erleichterung: »Er steht doch
unter dem Schutz des Allmächtigen. Er wird erst sterben, wenn
seine Mission erfüllt ist.« 55
Im Frühsommer 1940 schien sich dies zu bestätigen, als die Wehr-
macht den »Erbfeind« im Westen, gegen den im Ersten Weltkrieg
54 Zum Hitler-Mythos vgl.: Kershaw, Ian: Der Hitler-Mythos. Volksmeinung
und Propaganda im Dritten Reich, in: Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für
Zeitgeschichte, Nr.41, Stuttgart 1980.
55 Eintrag vom 9. 11. 1939.
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eine ganze Generation im mörderischen Stellungskrieg ausgeblutet
war, in einem weiteren Blitzkrieg niederwarf. Hitler, wohl im Zenit
seiner Macht und seines Ansehens, folgten die Deutschen auch
noch, als er die Nation aller Erkenntnis des Ersten Weltkrieges zum
Trotz in einen Zweifrontenkrieg trieb. Goebbels verkehrte nun ein-
mal mehr Ursache und Wirkung, indem er im Zusammenrücken der
»westlichen Plutokratien« mit der bolschewistischen Sowjetunion
den letzten Beweis für seine Weltverschwörungstheorie des »inter-
nationalistischen Judentums« als erbracht ansah.
Schon mit der Machtübernahme hatte Hitlers antisemitischer
»Einpeitscher« jene große Abrechnung mit dem Judentum gewollt.
Goebbels hatte Hitler stets bedrängt, doch dieser hatte zunächst
noch Rücksicht auf die außenpolitische Stellung des Reiches ge-
nommen. Nur zweimal hatte Goebbels in Friedenszeiten seinen
schrankenlosen Haß in großem Stil organisatorisch umsetzen dür-
fen: während des Boykotts der jüdischen Geschäfte am 1. April
1933 56 und während der sogenannten Reichskristallnacht am 9. No-
vember 1938. 57 Was Goebbels, dem diese Pogrome nicht weit genug
gingen, blieb, war eine relativ freie Hand innerhalb seines eigenen
Zuständigkeitsbereichs als Reichsminister für Volksaufklärung und
Propaganda, aber auch als Präsident der Reichskulturkammer. Seit
1936 ließ er den Kulturbetrieb »entjuden«, nach Maßgaben, die
über die Paragraphen der Nürnberger Rassegesetze noch hinaus-
gingen.
Angesichts des unerwartet schweren und alles entscheidenden
Kampfes gegen die Sowjetunion mußte es Goebbels um so dring-
licher erscheinen, die Verbündeten der »Weltverschwörer« im eige-
nen Land »auszuradieren«. Er unterließ dabei keinen Versuch, auf
Hitler einzuwirken, damit dieser die Aufgabe rasch in Angriff
nahm. So stellte Goebbels im August 1941 fest, daß es ein »Skandal«
sei, daß sich noch 75000 Juden in Berlin »herumtreiben« könnten,
von denen nur 23 000 im Arbeitsprozeß stünden; die anderen lebten
56 Zur Rolle Goebbels’ vgl. : Reuth, Goebbels , S. 280ff. ; zum Holocaust im all-
gemeinen vgl.: Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden, Ber-
lin 1961; Reitlinger, Gerald: Die Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung
der Juden Europas 1939- 1945, 5. Aufl., Berlin 1979.
57 Siehe Reuth, Goebbels, S. 394 ff.
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»als Parasiten von der Arbeit ihres Gastvolkes« und warteten, wäh-
rend sie sich »durch unsere Volkskraft [. . .] ernähren«, auf die deut-
sche Niederlage. Er werde sich trotz der bürokratischen und senti-
mentalen Hemmnisse aus den Reichsbehörden »nicht verblüffen und
nicht beirren« lassen und »nicht ruhen und nicht rasten, bis [. . .]
wir dem Judentum gegenüber die letzten Konsequenzen gezogen
haben«. 58
In diesem August 1941 erhielt Goebbels von Hitler die Zusage,
sobald Transportmittel zur Verfügung stünden, zuallererst die Ber-
liner Juden nach Osten »abschieben« zu können. Obwohl man zu-
nächst davon ausging, daß mit den Deportationen bis zum Abschluß
der Ost-Operationen gewartet werden müsse, unterschrieb Goeb-
bels’ Weggefährte aus der »Kampfzeit«, Daluege, in seiner Eigen-
schaft als Chef der Ordnungspolizei auf allerhöchste, wohl unter dem
Eindruck des Sieges über die Rote Armee bei Wjasma und Brjansk
zustande gekommene Anordnung hin dann doch schon am 14. Okto-
ber 1941 den ersten Deportationsbefehl für Berliner Juden. 59
Vor der deutschen Öffentlichkeit »begründete« Goebbels die
Transporte in einem an pervertierter Verdrehung und blindwütigem
Haß nicht mehr zu überbietenden Aufsatz. Darin schrieb er, daß sich
an den Juden die Prophezeiung bewahrheite, »die der Führer am 30.
Januar 1939 im Deutschen Reichstag aussprach, daß, wenn es dem
internationalen Finanzjudentum gelingen sollte, die Völker noch
einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, das Ergebnis nicht die Bolsche-
wisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein werde,
sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa. Wir erleben
gerade den Vollzug dieser Prophezeiung, und es erfüllt sich am Ju-
dentum ein Schicksal, das zwar hart, aber mehr als verdient ist.« 60
58 Eintrag vom 18.8.1941.
59 Zur Deportation der Berliner Juden vgl. : Kempner, Robert Max Wassili: Die
Ermordung von 35000 Berliner Juden. Der Judenmordprozeß in Berlin
schreibt Geschichte, in: Gegenwart im Rückblick. Festgabe für die Jüdische
Gemeinde zu Berlin 25 Jahre nach dem Neubeginn, Heidelberg 1970; Hen-
schel, Hildegard: Aus der Arbeit der Jüdischen Gemeinde Berlin während der
Jahre 1941-1943. Gemeindearbeit und Evakuierung von Berlin. 16. Oktober
1941 -lö.Juni 1943, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden 9 (1972).
60 Goebbels, Joseph: Die Juden sind schuld!, in: Das Reich vom 16.11.1941;
siehe dazu: Eintrag vom 19.8.1941.
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Glaube und Judenhaß
Bis auf viertausend jüdische Bürger, deren man nicht habhaft ge-
worden sei oder die als »Partner in privilegierten Mischehen« lebten
(tatsächlich dürften es etwa 18000 gewesen sein), glaubte Goebbels
am 1 1 . März 1943 sein Ziel erreicht zu haben. In insgesamt 63 T rans-
porten wurden 35 738 der 1941 noch in Berlin lebenden 66000 Juden
deportiert und ermordet. Außerdem gingen bis Kriegsende 117 so-
genannte Alterstransporte mit 14979 Juden nach Theresienstadt,
von denen nur wenige überlebten. Ihr, aber auch Millionen anderer
deutscher und europäischer Juden vor allem intellektueller Weg-
bereiter in den Tod war Goebbels, dessen Gau am 19. Mai 1943 als
»judenfrei« gemeldet wurde, worin er seine »größte politische Lei-
stung« 61 sah. Skrupel quälten den Propagandaminister dabei nicht,
erachtete er dies doch - insbesondere seit im November/Dezember
1941 die Hoffnungen auf einen schnellen Sieg vor Moskau erfro-
ren waren - als den entscheidenden Beitrag zur Rettung des Abend-
landes.
Doch nicht nur Goebbels’ Judenhaß hatte mit der zunehmend
schwieriger werdenden militärischen Lage eine neue Dimension er-
reicht. Goebbels flüchtete sich nun in jenen alten, fanatischen Glau-
ben, auf dem seinem Verständnis zufolge seine persönlichen, aber
auch die Erfolge des Nationalsozialismus beruhten. Wenn ihnen
dieser Glaube fast aus dem Nichts heraus zur Macht verholfen hatte,
warum sollte er ihnen jetzt, da sie alle Machtmittel in Händen hiel-
ten, nicht den Weg zum »Endsieg« ebnen, suggerierte Goebbels sich
selbst und den Deutschen. So auch während seiner wohl bekannte-
sten Rede, in der er am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast -
soeben war in Stalingrad die 6. deutsche Armee untergegangen -
den totalen Krieg einforderte - »totaler und radikaler, als wir ihn
uns heute überhaupt vorstellen können«. 62
In dieser Rede stehen die Konstanten, Glaube und Judenhaß, ex-
emplarisch für das Wesen der Goebbelsschen Propaganda. Neben
der Abrechnung mit dem sich hinter den »anstürmenden Sowjethor-
61 Eintrag vom 18.4. 1943.
62 Die Rede ist abgedruckt bei: Heiber, Helmut (Hrsg.): Goebbels Reden
1939-1945, Düsseldorf 1972, Bd.2, S. 1 72 ff. (weiterhin zitiert als: Heiber,
Goebbels Reden); vgl. dazu auch die Eintragungen vom 14.-18.2.1943 sowie
Reuth, Goebbels, S. 5 1 8 ff.
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den« verbergenden Judentum als dem »teuflische(n) Ferment der
Dekomposition, das eine geradezu zynische Genugtuung dabei
empfindet, die Welt in ihre tiefste Unordnung zu stürzen und damit
den Untergang jahrtausendealter Kulturen [. . .] herbeizuführen«,
beschwor Goebbels den Glauben an das »Wunder des Unmögli-
chen«. Erst das »Heldenopfer« Stalingrad machte seinen Ausfüh-
rungen zufolge den Weg frei zur erlösungverheißenden Erkenntnis,
daß nur der unerschütterliche Wille (Glaube) zum »totalen Krieg«
zum »Endsieg« führe. Goebbels nannte als »Beweis« jener im Glau-
ben liegenden Kraft neben dem Aufstieg der Partei auch die Uner-
schütterlichkeit Friedrichs des Großen im Siebenjährigen Krieg. So
wie der Preußenkönig an den Sieg geglaubt und schließlich gesiegt
hatte, glaube auch Hitler und werde siegen, suggerierte Goebbels
seinen emotionalisierten und schließlich fanatisierten Zuhörern,
von denen er eben jenen unverbrüchlichen Glauben einforderte.
Goebbels blieb nicht ohne Erfolg, denn zumindest im Sportpalast
war die kollektive Überwindung der Vernunft geglückt. Noch zwan-
zig Minuten blieb der Großdeutsche Rundfunk auf Sendung, nach-
dem der Mann mit dem Klumpfuß vom Rednerpult gehumpelt war,
um die Geräuschkulisse jener exzessiven Massenhysterie über die
Rundfunkwellen hinaus ins Reich zu tragen.
Goebbels’ Glaube an die Sendung Hitlers wurde jedoch auf eine
harte Probe gestellt, denn seine Vorstellungen vom totalen Krieg
ließen sich nicht durchsetzen. Er, der die Kriegslage realistisch ein-
schätzte, gab lange Zeit die Verantwortung dafür den Männern aus
der unmittelbaren Umgebung Hitlers, allen voran seinem Neben-
buhler im Ringen um die Gunst des »Führers«, Martin Bormann.
Daß es letztendlich Hitler war, der sich trotz ständig schwieriger
werdender Lage an den Fronten gegenüber Vorstellungen von einer
Radikalisierung des Krieges wenig aufgeschlossen zeigte, ver-
drängte Goebbels.
Wie schon so oft in der Vergangenheit erlag Goebbels auch hier
bei den entscheidenden Begegnungen mit Hitler der von diesem auf
ihn ausgehenden Faszination: Obgleich Goebbels fest entschlossen
war, den »Führer« für seine Vorstellungen gewinnen zu wollen,
stimmte ihm dieser in der Sache zu, lenkte jedoch stets alsbald vom
Thema ab und schmeichelte dem dafür so anfälligen Minister, der
dann wieder aufgeladen »wie ein Akkumulator«, optimistisch und
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Glaube und Judenhaß
glaubensdurchdrungen an die Arbeit ging, auch wenn er faktisch
nichts erreicht hatte. In einem Geburtstagsbrief an Hitler schrieb
Goebbels: »Daß ich, [. . .] mit meinen Sorgen immerzu Ihnen kom-
men und mich dabei an Ihrer Stärke aufrichten kann, das gibt mir
auch in den schwersten Stunden stets neue Kraft und neuen Glau-
ben.« 63
Obwohl Goebbels keine der wichtigen Entscheidungen Hitlers
beeinflussen konnte, erwog er zu keinem Augenblick, sich in
irgendeiner Form gegen »seinen Führer« zu stellen. Schon bei der
ersten großen Zerreißprobe, der Bamberger Führertagung 64 im Fe-
bruar 1926, als Goebbels gemeinsam mit Gregor Strasser Hitler von
den Münchener »Reaktionären« loseisen, ihn für den Sozialismus
gewinnen und Elberfeld zum »Mekka des deutschen Sozialismus«
machen wollte, mit diesem Vorhaben jämmerlich scheiterte, Hitler
statt dessen ein Programm skizzierte, das mit Goebbels’ Vorstel-
lungen nichts, aber auch gar nichts gemein hatte, blieb Goebbels
dennoch an Hitlers Seite. In sein Tagebuch notierte er: »Welch
ein Hitler? Ein Reaktionär? Fabelhaft ungeschickt und unsicher.
Russische Frage: vollkommen daneben. Italien und England natur-
gegebene Bundesgenossen. Grauenhaft! Unsere Aufgabe ist die
Zertrümmerung des Bolschewismus. Bolschewismus ist jüdische
Mache ! Wir müssen Rußland beerben ! 180 Millionen ! ! ! Fürstenab-
findung! Recht muß Recht bleiben. Auch den Fürsten. Frage des
Privateigentums nicht erschüttern! (sic!) Grauenvoll!« 65
Da ihm der Glaube Schlüssel zum Überleben in der von der
»Canaille Mensch« vermeintlich verderbten Welt und Hitler zur In-
karnation dieses Glaubens geworden war, mußten fürGoebbels poli-
tische Ansichten wenigerzählen als die Bindung an »seinen Führer«.
Mit anderen Worten: die Zielsetzung des Glaubens, die gerechte,
sozialistische Welt, mußte ihm weniger als der Glaube selbst bedeu-
ten. Diese gestörte Kongruenz wurde von Goebbels freilich durch
seine ausgeprägte Fähigkeit zur Autosuggestion alsbald wiederher-
gestellt, indem er sich einredete, Hitler werde lediglich von seinem
63 Goebbels an Hitler am 20.4.1944, BA Koblenz, NL 118/ 100.
64 Vgl. dazu: Reuth, Goebbels, S. 98 f.
65 Eintrag vom 15.2.1926.
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»reaktionären« Münchener Umfeld beeinflußt, sei in seinem Kern
tatsächlich aber Sozialist. So richtete Goebbels als Berliner Gaulei-
ter immer wieder seine haßerfüllte Propaganda gegen »Bourgeoisie
und Reaktion« und redete dem Sozialismus das Wort. Er band da-
mit den proletarisch-sozialistischen Teil der Berliner Parteibasis an
sich und damit letztlich an den »Reaktionär« Hitler. Das seiner in-
neren Gespaltenheit entsprechende Handeln trug so entscheidend
dazu bei, daß weder infolge des Stennes-Putsches noch der Strasser-
Krisen die Partei in zwei Lager auseinanderfiel.
Ähnlich verhielten sich die Dinge, als Goebbels im Frühsommer
1934 irrtümlich glaubte, Hitler schlage alsbald gegen die »Reaktion«
im Lande los und vollende damit analog zu den Vorstellungen des
Stabschefs der SA die nationalsozialistische Revolution. 66 Goeb-
bels’ Propaganda-Feldzug gegen die »Miesmacher und Kritikaster«
richtete sich dann ausschließlich gegen die Aristokratie, die »vor-
nehmen Herren«. Am 27. Juni 1934, als sich auch noch die »Pfaffen«
in einem Hirtenbrief scharf gegen den Staat wandten, notierte
Goebbels in sein Tagebuch: »Die Lage wird immer ernster. Der
Führer muß handeln. Sonst wächst uns die Reaktion über den
Kopf.« Hitler handelte. Doch der Hauptschlag richtete sich gegen
die SA-Führung, die die sogenannte »Zweite Revolution« eingefor-
dert hatte. Wiederum stellte sich der völlig überraschte Goebbels
auf die Seite Hitlers, indem er - wie Rosenberg verächtlich fest-
hielt - geradezu darum bettelte, zum »Männerunternehmen«, der
Ausschaltung Röhms und der SA-Führung in Bad Wiessee, zuge-
lassen zu werden. Wiederum konstruierte sich Goebbels eine
»Brücke«, indem er sich und der Nation einredete, die liquidierten
SA-Führer hätten im Bunde mit der »Reaktion« und dem feind-
lichen Ausland gestanden.
Immer wieder sollte sich Goebbels das Bild vom Sozialisten Hit-
ler suggerieren und diesem auf dessen verschlungenen Wegen fol-
gen, etwa beim »Pakt mit dem Teufel«, dem Hitler-Staiin-Pakt
vom August 1939, dessen Zwischenlösungscharakter der Propa-
gandaminister zunächst nicht erfaßte; oder zum Beispiel, als Hitler
den Feldzug gegen die Sowjetunion in Angriff nahm, obgleich die-
66 Vgl. dazu: Reuth, Goebbels, S. 310ff.
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ses Unternehmen der großen Lehre des Ersten Weltkrieges zuwi-
derlief, nicht noch einmal in einen Zwei-Fronten-Krieg verwickelt
zu werden. An Goebbels’ bedingungsloser Gefolgschaft änderte
sich auch nichts, als sich seit Frühjahr 1944 mit dem unaufhaltsa-
men Näherrücken der alliierten Invasion im Westen des europäi-
schen Kontinents die militärische Lage Deutschlands ständig ver-
schlechterte. Gleichwohl quälten ihn wieder in verstärktem Maße
Zweifel, die er durch die Nähe Hitlers zu ersticken suchte.
Wie ein Quell ungeahnter Kraft wirkte auf Goebbels die Tat-
sache, daß Hitler am 20. Juli 1944 das Attentat Stauffenbergs wie-
derum wie durch ein Wunder überlebt hatte. 67 Goebbels, der von
seinem Ministerium in Berlin aus entschlossen den Putsch verei-
telte, verkündete propagandistisch überzeichnet im Großdeut-
schen Rundfunk: »Dann aber erfüllte eine fast religiöse, andäch-
tige Dankbarkeit mein Herz. Ich hatte es schon oft - aber noch
niemals so sichtbar und eindeutig wie hier - erlebt, daß der Führer
sein Werk unter dem Schutz der Vorsehung erfüllt [. . .], daß damit
aber auch ein über allem menschlichen Tun waltendes göttliches
Schicksal uns einen Fingerzeig gibt, daß dieses Werk, auch wenn es
noch so großen Schwierigkeiten begegnet, vollendet werden muß,
vollendet werden kann und vollendet werden wird.« 68
Nachdem Goebbels doch noch die Vollmachten zur Totalisie-
rung des Kriegseinsatzes erhalten hatte, nachdem er in seiner
Eigenschaft als Reichsbevollmächtigter Hunderttausende für Waf-
fenschmieden und Fronten freigemacht hatte, nachdem durch sein
Zusammenwirken mit Speer die deutsche Rüstungsmaschinerie
noch einmal auf Hochtouren gebracht worden war, nachdem die
an die Ardennen-Offensive geknüpften Hoffnungen zerstoben wa-
ren und die Truppen der Anti-Hitler-Koalition in Ost und West
weiter auf Reichsgebiet vorstießen, schien dann aus Goebbels’
Sicht - gleichsam in letzter Stunde - das »Wunder des Unmög-
lichen« als Triumph des Glaubens doch noch Wirklichkeit zu wer-
den. Am 12. April 1945 starb im Warm Springs der amerikanische
Präsident Roosevelt, wovon sich Goebbels analog zum Tod der
67 Ebda., S. 548 ff.
68 Heiber, Goebbels Reden, Bd.2, S. 343.
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Zarin Elisabeth im Siebenjährigen Krieg, der die russisch-öster-
reichische Entente sprengte und somit Friedrich und Preußen ret-
tete, den Bruch innerhalb der »jüdischen Weltverschwörung«, den
Bruch zwischen »westlichen Plutokratien« und Bolschewismus,
versprach. 69 In seiner traditionellen Rede am Vorabend von Hit-
lers Geburtstag verkündete Goebbels: »Gott wird Luzifer wie
schon so oft, wenn er vor den Toren der Macht über alle Völker
stand, wieder in den Abgrund zurückschleudern, aus dem er ge-
kommen ist. Ein Mann von wahrhaft säkularer Größe, von einem
Mut ohnegleichen, von einer Standhaftigkeit, die die Herzen er-
hebt und erschüttert, wird dabei sein Werkzeug sein.« 70
Als das Wunder auf sich warten ließ, die Rote Armee statt des-
sen von der Oder zur letzten Offensive zur Einnahme der Reichs-
hauptstadt angetreten war, blieb Goebbels die Aufgabe, seinen vor
dem physischen und psychischen Zusammenbruch stehenden, mit
Fluchtgedanken spielenden »Führer« zu stärken, ihn nur nicht aus
der Rolle des von einer höheren Macht Gesandten fallen zu lassen.
Nur von einem solchen Hitler bezog Goebbels nämlich seine Glau-
benskraft, die er angesichts des bevorstehenden Endes mehr denn
je benötigte. Hitler mußte der »Messias« bleiben, damit sich Goeb-
bels nicht eingestehen mußte, daß sein Leben letztlich auf einem
gewaltigen Selbstbetrug gründete, daß sein Glaube nichts anderes
als Fiktion war. Statt dessen sollte der Fortbestand der politischen
Religion Nationalsozialismus über beider Tod hinaus gewährleistet
werden. Mit Blick auf diese Zeit spekulierte Goebbels: »Würde
der Führer in Berlin einen ehrenvollen Tod finden und Europa bol-
schewistisch werden - in fünf Jahren spätestens wäre der Führer
eine legendäre Persönlichkeit und der Nationalsozialismus ein My-
thos, weil er durch den letzten großen Einsatz geheiligt wäre.« 71
Am 30. April 1945 nahm sich Hitler im Bunker unter der Reichs-
kanzlei das Leben. Nach einem gescheiterten, aus der Furcht vor
dem Ende entsprungenen Versuch, mit Stalin ein Arrangement zu
finden, folgte Goebbels »seinem Führer« am Tag darauf gemein-
69 Reuth, Goebbels, S. 592 ff.
70 Heiber, Goebbels Reden, Bd.2, S. 452.
71 Goebbels während der Lagebesprechung am 25.4.1945, in: Der Spiegel vom
10.1.1966.
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sam mit seiner Frau Magda in den Tod. 72 Mit der Begründung, daß
ein Leben nach Hitler und dem Nationalsozialismus nicht mehr le-
benswert sei, hatte Magda zuvor beider sechs Kinder vergiftet. Ein
letztes Mal, wohl in der pervertiertesten Form, hatte Goebbels da-
mit seinem fanatischen Glauben Genüge getan - einem Glauben,
zu dem stets jene düstere Ahnung des Endes gehörte, die er im
Jahre 1925 in einem offenen Brief an Hitler in die pathetischen
Worte gekleidet hatte: »Dann mag ein Tag kommen, wo alles zer-
bricht. Wir zerbrechen dann nicht. Dann mag eine Stunde kom-
men, wo der Mob um Sie geifert und grölt und brüllt, >kreuziget
ihn !<; wir stehen dann eisern und rufen und singen >Hosiannah !<.
Dann steht um Sie die Phalanx der Letzten, die selbst mit dem
Tode nicht verzweifeln. Der Stab der Charaktere, die Eisernen,
die nicht mehr leben wollen, wenn Deutschland stirbt.« 73
72 Vgl. dazu: Reuth, Goebbels, S. 610 ff.
73 Goebbels, Joseph: Der Generalstab, in: Goebbels, Joseph: Wege ins Dritte
Reich. Briefe und Aufsätze für Zeitgenossen, München 1927, S. 7ff., hier S. 9.
DIE TAGEBÜCHER
DES JOSEPH GOEBBELS